Ich habe so meine Probleme mit dem Gottesdienstbesuch. Als gläubiger Mensch ertrage eigentlich nur noch traditionelle Gottesdienste. Neue Formen, neue Lieder bewirken bei mir sofort eine Art der Retraumatisierung, sie versetzen mich in eine Lebensphase, mit der ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht allzu viel anfangen kann.
Gleichzeitig ist die Natur für meine Spiritualität in den letzten Jahren wichtiger geworden. Mein Nachdenken über ihre spirituelle Relevanz hat etwa gleichzeitig mit meiner künstlerischen Arbeit zugenommen. Ich habe recht schnell empfunden, dass Naturspiritualität und Kunstspiritualität im Kern zusammengehören. Dass ich gegenüber vom Wald lebe, hat sicher dazu beigetragen. Daher hat die franziskanische Spiritualität für mich auch an Faszination gewonnen, je mehr ich mich mit ihr beschäftigt habe. Es beeindruckt mich, dass Franziskus allem Geschöpflichen als Gegenüber, ja sogar als Bruder und Schwester begegnet.
Ich gehe also gerne in traditionelle Gottesdienste. Leider finden Sie meistens vormittags statt. Aber das Wochenende ist für mich der Zeitraum der Woche, an dem nicht das gnadenlose Zeitdiktat des Alltags herrscht. Allein die Tatsache, am Wochenende einen festen Termin zu haben, an den ich mich halten muss, versauert mir alles. Nicht ausschlafen zu können, nicht ausgiebig frühstücken zu können, nicht lange am Tisch mit meiner Frau reden zu können, weil es da einen Termin gibt, den ich wahrzunehmen habe, würde den Sonntag für mich zum Alltag machen. Und das geht nicht.
Ich habe deshalb am vergangenen Sonntag beschlossen, etwas Eigenes zu machen. Ich habe nach dem Frühstück das alte Kirchengesangbuch eingesteckt, das meine Mutter mir geschenkt hat, und mein Handy und bin bei Regen in den Wald gegangen. Im Gesangbuch steht die liturgische Abfolge eines evangelischen Gottesdienstes. Mein Handy brauchte ich, um die von der Liturgie für den Sonntag vorgesehenen Bibeltexte lesen zu können. Der Fußweg zu dem Ort im Wald, den ich mir ausgesucht hatte, dauert etwa 20-30 Minuten. Diese Zeit konnte ich dafür nutzen, um nachzudenken beziehungsweise zu meditieren. Vor kurzem ist unser alter Nachbar gestorben. Mein Weg führte mich an seinem Haus vorbei. Ich dachte über das Sterben nach, über das, was wir unser Zuhause nennen und was dann leer steht, wenn wir nicht mehr da sind. Ich empfand diese Gedanken aber gar nicht als dunkel. Der Wald ist gerade voller herbstlichem Gelb, Braun und Rot, und auch wenn er viel vom Älterwerden, vom Abschiednehmen spricht, ist er doch ein wunderschönes sinnliches Erlebnis. Wenn ich unterwegs Spaziergänger traf, betrachtete ich sie als Teilnehmer der Veranstaltung und grüßte sie freundlich.
Die Stelle im Wald ist etwas höher gelegen. Die Bäume dort sind etwa um die 200 Jahre alt und stehen recht weit voneinander entfernt, so dass es aussieht wie eine Säulenhalle und ein wenig an eine gotische Kathedrale erinnert. Ich stellte mich mitten zwischen die Bäume und holte mein Gesangbuch heraus. Mein Eindruck war eigentlich nicht, dass ich alleine wäre. Ganz im franziskanischen Sinne empfand ich die Bäume, die Vögel und die anderen Pflanzen um mich herum als Teil der Gemeinschaft, als Teil des Gottesdienstes. Umgeben von Jahrhunderte alten Bäumen sang ich Jahrhunderte alte Gebete und las laut Jahrtausende alte Texte. Diese Erdung in der Tradition in Gegenwart der alten, aber ganz jetzigen Natur empfand ich als eine total gute, an und für sich christliche Hinwendung zur Gottheit und gleichzeitig zur Diesseitigkeit. Ich fand: Beten war unter diesen Umständen etwas Leichtes, etwas vollkommen Natürliches.
Der Gottesdienst endete wie alle mit dem ‚Vater unser‘ und einem gesungen Amen. Danach ging es wieder nach Hause, und dass ich mich auf dem Weg sehr leicht fühlte, hatte nicht nur damit etwas zu tun, dass es meistens bergab ging. Ich werde das sicher noch öfter wiederholen.