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Das Abenteuer von ‚Ohne mich geht’s nicht‘ (2)

Das Abenteuer von ‚Ohne mich geht’s nicht‘ – als Fortsetzungsgeschichte. Wie kam es überhaupt dazu, dass wir dieses Album aufgenommen haben? In den nächsten Tagen erscheinen die nächsten Folgen der Story. Und natürlich dürft ihr auch die Musk hören.

EIN GEWAGTER PLAN

Wer mich nicht kennt, weiß vielleicht nicht, dass meine familiären Verhältnisse ein bisschen kompliziert sind. Zwei unserer vierköpfigen Familie haben einen Behindertenausweis. Und die anderen beiden sind auch nicht ganz dicht. Bei uns kann es jederzeit vorkommen, dass die eben noch heile Welt aus den Fugen gerät. Wir haben uns zwar inzwischen eine recht stabile Schieflage erarbeitet, aber wir können trotzdem nie ganz sicher sein, dass wir nicht demnächst wieder abkippen.
Im Dezember 2016, an dem Tag, für den Winnie freundlicherweise unser Treffen arrangiert hatte, war es mal wieder so weit. Uns wurde alles zu viel. Ich sagte ab. Und die Vorstellung, mich erneut auf das Abenteuer des Musikmachens einzulassen, schien eine dämliche Idee gewesen zu sein. Doch die dunklen Wolken verzogen sich wieder. Unsere Nerven beruhigten sich. Und noch etwas anderes passierte. Manu konnte Hilfe gebrauchen.

Was man als Künstler tut oder lässt, ist ja nicht nur eine Frage des Wollens und Könnens, sondern auch der Umstände. Es ist – leider – deshalb immer wieder auch eine wirtschaftliche Frage. Und es gibt viel zu viele Künstler, die trotz all der Qualität, die sie regelmäßig abliefern, ums Überleben kämpfen müssen. Mein Freund Manu ist dafür ein gutes Beispiel. Er ist ein hervorragender Bassist, Produzent und Musiker. Trotzdem wird es wohl noch lange dauern, bis er seine Schäfchen im Trockenen hat.

Als wir wieder einmal zusammen saßen und uns um ausbleibende Aufträge bzw. Zahlungen sorgten und darüber nachdachten, dass der Januar grundsätzlich ein schwieriger Monat sei, weil die Projekte des vorigen Jahres abgeschlossen und die Aufträge des neuen Jahres noch nicht eingegangen sind, fasste ich einen Entschluss: Wir würden im laufenden Jahr ein Projekt starten, das ihm im Januar des folgenden Jahres ein Einkommen bescheren würde. Gleichzeitig würden wir all denen eine Freude machen, die schon seit längerem auf neue Musik von mir warteten.

Was wir dafür benötigten, war klar: eine Band, neue Songs und ein Produktionsbudget von mindestens 10.000 €.
Ich gebe zu: Der Ausblick, eine derartig große Summe beschaffen zu müssen, war ein Stimmungsdämpfer. Natürlich gab es nur einen Weg, um an so viel Geld zu gelangen. Wir mussten ein Crowdfunding starten. Alles würde davon abhängen, dass sich genügend Leute fanden, die unsere Musik wirklich hören wollten. Und wer konnte schon wissen, ob das der Fall war?
Die anderen beiden Punkte des Plans waren leicht. Schnell war die Band zusammengetrommelt. Selbstverständlich war Winnie mit von der Partie. Als nächstes stieß Björn dazu, der ›Neue Helden‹ mochte und Lust auf ein Abenteuer mit uns hatte. Und schließlich stieg David ein, mein junger Nachbar, der ein hervorragender Gitarrist ist, nur eine Straße weiter wohnt und den ich trotzdem noch nie zuvor gesehen hatte. Der Kontakt kam über Manu zustande. Es gab nun eine Band. Aber noch keine Songs.

Ich musste mich also an die Arbeit machen.

(Fortsetzung folgt)

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Das Abenteuer von ‚Ohne mich geht’s nicht‘ (1)

Es ging los mit Winnie.
Der hatte mir nämlich eine E-Mail geschrieben mit der Frage, ob wir die Songs meines Albums ›Neue Helden‹ live spielen wollten. Ich hatte damals nicht reagiert. Natürlich fand ich es toll, dass ihm die Lieder gefielen. Aber ich dachte auch an den Aufwand, den das bedeuten würde: Die Probetermine. Und die Wochenenden, an denen man viel fahren, schlecht schlafen und nichts verdienen würde. Zu diesem Zeitpunkt versuchte ich gerade, meine Karriere als Schriftsteller in Gang zu bringen und hielt die Musik für reine Zeitverschwendung, für eine Ablenkung vom Eigentlichen.
Aber Winnie gab nicht auf. Er nahm einen Beitrag auf facebook, in dem sich jemand enthusiastisch über meine Musik äußerte, zum Anlass, um noch einmal nachzuhaken. »Na, sieh mal an«, schrieb er, »da freuen sich noch so einige über deine Songs!! Ich hatte dich ja (…) gefragt, ob man das nicht mal wieder auf die Bühne bringen könnte (…) Ob Manu auch Lust hätte auf eine kleine Tour oder einige Wochenend-Gigs?!«
Diesmal reagierte ich. Ich hatte ohnehin ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn das letzte Mal hatte hängen lassen. Außerdem fehlte mir etwas. Die Schriftstellerei war nicht so erfolgreich gelaufen, wie ich es erhofft hatte, und ich vermisste das Musikmachen. Ich hatte versucht, angesichts meiner Lebensumstände und Erfolgsaussichten eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Aber das hatte irgendwie nicht hingehauen. Also warum sollte ich nicht einfach auf alles pfeifen und wieder mit der Musik anfangen?
Ich bat Winnie, ein Treffen mit Manu und mir zu organisieren. Das tat er gerne.
Und ich ließ es platzen. (…)

(Fortsetzung folgt)

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Das Album ist da!

In aller Kürze, zwischen Steuerberater, Kochen für die Jungs und Vorbereitungen für den Gig heute Abend: Das Album ist da, und ihr könnt es kaufen. Zum Beispiel hier oder hier. Danke und viel Spaß!!!

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Intensive Tage

Wir sind wieder aus dem Studio aufgetaucht, müde, aber glücklich. Hinter uns liegen unglaublich schöne und intensive Tage, die uns als Band zusammengeschweißt haben. Und die uns allen ein schönes Album bescheren werden. Das kann ich jetzt schon behaupten, auch wenn ich das endgültige Ergebnis natürlich noch gar nicht kennen kann. Dafür gibt es noch zu viel zu tun.

Danke Philip Müller, für die tolle Zeit in deinem Studio und deine professionelle Anleitung! Danke an Winnie, Manu, David und Björn, die mit mir zusammen Rhadio bilden.

https://www.facebook.com/gofimueller/videos/1170897566377078/

 

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Ab ins Studio

Es ist wirklich unglaublich, was kurz vor Weihnachten passiert ist. Da haben mir und meiner Band Rhadio doch insgesamt 118 Menschen dabei geholfen, die Summe von 11.505 € zu sammeln! Unsere Crowdfunding-Kampagne bei Startnext ist ein voller Erfolg. Danke an euch alle, die ihr mit angepackt habt!

Die 10.000 Euro, die wir benötigen, um das Studio, den Techniker, den Mix, das Mastering, das Pressen der CDs usw. bezahlen zu können, haben wir also locker zusammen. Ein paar Hundert Euro werden noch als Transfer-Gebühren und als Provision für die Plattform abgezogen. Aber der Rest fließt in die Produktion.

Und damit geht’s an die Arbeit. Morgen, am Dienstag, werden die Koffer gepackt. Abends checken wir im Studio in Delmenhorst ein. Und Mittwoch beginnen die Aufnahmen.

Jep. Ich bin aufgeregt. Und ich freue mich wahnsinig auf die Arbeit, zusammen mit Manu, Björn, David, Winnie und Phil.

Das neue Album dürft ihr etwa im März oder April erwarten.

Außerdem wird es ein begleitendes Buch geben, mit allen Texten, Begleittexten und vielen Bildern. Ich hoffe, ihr freut euch genauso darauf, wie ich es tue.

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Melanie rächt sich (TimTom-Guerilla-Kurzgeschichte)

Sie atmete erleichtert auf, als die Haustür ins Schloss fiel und die Schritte ihres Vaters sich entfernten. Ihre Mutter war schon vor einer halben Stunde zur Arbeit gegangen, und jetzt war sie allein. Allein mit fünf Männern, die noch schliefen.

Eigentlich musste auch sie sich auf den Weg zur Schule machen. Das Gymnasium war zwar nicht weit entfernt, aber zu Fuß würde sie gut fünfzehn Minuten brauchen, und es war schon kurz nach halb acht. Sie stand im Flur und betrachtete ihre Jacke, die am Garderobenhaken hing.

Die fünf Typen waren eine Punkband und ihr Manager. Dass sie ausgerechnet im Haus der Lüders übernachteten, war einem völlig verrückten Zufall zu verdanken, einem Zufall, wie ihn sich Melanie in ihren kühnsten Träumen nicht hatte ausmalen können.

Der Manager war ein alter Studienfreund ihres Vaters. Bernhard Lüders war der letzte, dem sie eine Bekanntschaft zu irgendjemandem aus der Kunst- oder Musikwelt zugetraut hätte. Er war korrekt, zuverlässig, erfolgreich, humorlos und streng. Sie hasste ihn, auch wenn sie sich das niemals anmerken ließ, sondern ihre Wut hinter einer Fassade aus Schweigsamkeit und Gehorsam verbarg.

Scheinbar hatte die Band für ihr gestriges Konzert kein Quartier gefunden. Deshalb hatte der Manager spontan ihren Vater gefragt, ob es möglich sei, dass sie bei ihnen übernachteten. Ihr Vater hatte geschäumt, als er die E-Mail gelesen hatte. Dann aber hatte er sein Einverständnis gegeben, nicht etwa aus Nachsehen, sondern weil er nicht als gastunfreundlicher Geizkragen dastehen wollte.

Gestern also hatte Melanie etwas getan, was sie in ihrem ganzen Leben noch nie getan hatte und was sie, das schwor sie sich hoch und heilig, auch nie wieder tun würde: Sie hatte zusammen mit ihrem Vater ein Rockkonzert besucht. Natürlich war es zu dem erwartbaren Fiasko gekommen.

Nach dem Auftritt, der ganz in Ordnung gewesen war, wollten die Musiker im Backstage-Bereich des Kulturladens noch ein wenig feiern. Und natürlich hatte Melanie gehofft, dass sie als Gastgeber mitfeiern würden.

Aber für ihren Vater war das überhaupt nicht in Frage gekommen. Er hatte alle aufgefordert, die Sachen zu packen und aufzubrechen, und dafür hatte er sie – ausgerechnet sie! –  als Vorwand benutzt: Es sei ja schon spät, und seine Tochter müsse am nächsten Tag wieder zur Schule gehen.

Melanie war außer sich gewesen. Aber auf der Fahrt von Wetzlar, wo das Konzert stattgefunden hatte, nach Gießen, wo das Haus der Lüders stand, hatte sie sich vorgenommen, sich an ihrem Vater zu rächen. Und sie wusste auch wie. Sie würde sich von einem der Musiker entjungfern lassen.

Ihr fielen mehrere gute Gründe ein, warum sie das Recht hatte, ihr Leben zu hassen: Ihr Vater war ein Arschloch, ihre Schulleistungen schlecht und ihr Freund ein Schlappschwanz. Aber ihr größter Kummer bestand darin, dass sie noch Jungfrau war.

Alle ihre Freundinnen hatten schon einmal mit einem Jungen geschlafen, die meisten mehrmals. Nur sie hatte das bisher noch nicht hinbekommen. Einmal, ein einziges Mal, war sie mit ihrem Freund allein zu Hause gewesen, weil die letzten beiden Schulstunden ausgefallen und ihre Eltern noch nicht von der Arbeit zurückgekommen waren. Sie hatten ein wenig geknutscht, und dann hatte sie ihm ihre Brüste gezeigt. Aber mehr war nicht passiert.

Als der braune SUV vor dem langweiligen Einfamilienhaus der Lüders hielt, stand ihr Plan fest. Heute Nacht würde sie im Bett eines der Musiker landen, in welchem war ihr eigentlich egal. Ihr Vater würde das niemals erfahren, aber sie würde sich immer wieder daran hochziehen, dass sie ihm eins ausgewischt hatte.

Natürlich kam alles anders. Die Band war müde und ihr Vater ein unsäglicher Gastgeber gewesen, der noch einen Streit mit dem Manager angezettelt hatte. Die Runde hatte sich deshalb ziemlich schnell aufgelöst.

Später hatte sie noch lange wach gelegen und sich über sich selbst, ihren Vater und auch die Musiker geärgert. Schließlich schlief sie mit dem Gedanken ein, dass vielleicht der morgige Tag eine Gelegenheit bieten würde, ihren Plan doch noch umzusetzen.

Nun stand sie im Flur und betrachtete ihre Jacke. Was hinderte sie daran, einfach zu Hause zu bleiben, zu warten, bis sie aufwachten und ihnen dann eine angenehme Überraschung zu bereiten? Jetzt war es doch sogar noch viel leichter als gestern.

Ihr Herz schlug laut, als sie behutsam die Treppen in den Keller stieg, sich vor die Tür stellte, hinter der die Musiker schliefen, und lauschte. Sie hörte ihr gleichmäßiges Atmen. Einer schnarchte. Was sollte sie tun? Melanie stieg leise die Treppe wieder nach oben und zog sich die Jacke an.

Als sie das Haus verließ, war sie unglücklich. Hier war ihre eine große Chance gewesen, nicht mehr ‚Papas Mädchen‘ zu sein, einen vielleicht unvorsichtigen, aber dafür eigenen Schritt zu gehen und sich selbst zu beweisen, dass sie cojónes hatte! Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und bog in die Alfred-Bock-Straße ein.

Wo würde die Band heute Abend spielen? Das war doch in Sins…, ja richtig, in Sinsheim. War das eigentlich weit weg? Sie kramte ihr Smartphone aus der Hosentasche und rief die Karten auf. Sinsheim, da war’s. Die Entfernung nach Gießen betrug hunderteinundachtzig Kilometer. Direkt um die Ecke lag es nicht. Mit dem Auto brauchte man laut Google knapp zwei Stunden. Es war andererseits also auch keine Weltreise. Aber wie sollte sie da hinkommen? Mit dem Zug vielleicht? Ach, Quatsch! Sie konnte doch nicht einfach nach Sinsheim fahren, nur weil sie ein paar Musiker treffen wollte.

Mein Gott, schimpfte sich Melanie selber aus. Kein Wunder, dass du immer noch Papas Mädchen bist. Jetzt wag doch endlich mal was!

Sie könnte mit den Musikern mitfahren, dachte sie. Sie könnte umkehren, nach Hause gehen, ihnen Frühstück machen und sie fragen, ob sie sie mitnehmen würden. Das wäre das Leichteste. Und auf der Fahrt würde sie einen von ihnen ein bisschen antörnen. Vielleicht den Bassisten mit dem Bart und den breiten Schultern, der hatte sie öfter angeguckt, und das noch nicht einmal besonders unauffällig. Ja, und dann würde er sie nach dem Konzert mit aufs Hotelzimmer nehmen. Und morgen – ach, das würde sich schon geben. Da konnte sie drüber nachdenken, wenn es soweit war.

Melanie blieb stehen. Sie würden sie nicht mitnehmen. Sie würden sie auslachen und ihr sagen, dass sie zu jung sei. Sie würden sie behandeln wie ein Kind. Und dann wegfahren. Das ging so nicht. Das musste anders laufen.

Wie teuer war ein Zugticket? Während sie langsam weiterging, rief sie die Seite der Bahn auf. Inzwischen war sie in der Keplerstraße und konnte das Schulgebäude sehen. Vierzig Euro. Eine Richtung. Also hin und zurück achtzig. Die hatte sie nicht. Zugfahren konnte sie vergessen.

Vielleicht würde Jasmin mitmachen? Die war schon achtzehn, hatte gerade ihren Führerschein bekommen und fuhr neuerdings einen alten Nissan Micra. Außerdem sah sie nicht schlecht aus. Sie hatte einen ziemlich guten Busen und tat viel für ihren Arsch. Sie könnte eine sinnvolle Verstärkung sein. Melanie musste nur aufpassen, dass Jasmin ihr nicht den Bassisten ausspannte. Das würde die Bedingung sein! Melanie würde Jasmin der Band vorstellen, aber nur unter der Bedingung, dass sie sich einen von den anderen aussuchte.

Es war zehn nach Acht, als Melanie die Schule erreichte. Der Hof war leer, der Unterricht hatte begonnen. Wenn sie ihren Plan wirklich umsetzen wollte, dann sollte sie gar nicht erst in der Schule auftauchen, dachte sie. Am besten wäre es, wenn die Lehrer sie für krank hielten. Vergiss Jasmin. Du machst das alleine. Aber wie? Wie komme ich da hin?

Per Anhalter. Natürlich! Wie denn sonst? Ich frag einfach einen LKW-Fahrer. Die nehmen doch immer gerne mal ein Mädchen mit. Sie dachte nach und beschloss, dass das Gewerbegebiet der geeignetste Ort war, eine Mitfahrgelegenheit zu finden. Das befand sich direkt an der Autobahn, und da hielten immer wieder Trucker, um was zu essen oder Pause zu machen. Der Bus dorthin hielt hier ganz in der Nähe. Sie warf sich die Schultasche über die andere Schulter und marschierte los.

Um etwa zwanzig vor neun öffneten sich die Türen des Busses, Melanie stieg aus und sah sich um. Sie würde erst einmal bei Burger King frühstücken. Wer wusste schon, wann sie das nächste Mal etwas zu essen bekommen würde? Allmählich fiel die Anspannung von ihr ab, und sie begann sich zu freuen. Sie hatte sich wirklich getraut! Sie war einfach losgegangen!

Anderthalb Stunden später hatte sich ihre Stimmung deutlich verschlechtert. Es gab hier gar nicht so viele LKWs, wie sie vermutet hatte! Ein Fahrer, den sie bei einem Nickerchen in seiner Kabine aufgeschreckt hatte, war sofort bereit gewesen, sie einsteigen zu lassen. Es hatte sich um einen unrasierten, dunkelhaarigen Typen mit osteuropäischem Akzent gehandelt, und Melanie hatte sich hastig aus dem Staub gemacht. Ein anderer fuhr in die entgegengesetzte Richtung nach Norden. Das war alles.

Sie saß auf dem Bordstein der Tankstelle und versuchte die aufkeimende Mutlosigkeit zu bekämpfen, als ein LKW vorfuhr und an der Zapfsäule hielt. Die Tür öffnete sich, und aus der Fahrerkabine kletterte – eine Frau! Melanies Herz machte einen Satz. Ohne zu zögern stand sie auf und ging auf die Truckerin zu.

„Entschuldigung?“, sagte sie.
Die Frau wandte sich um und sah sie an. Sie war einen Kopf kleiner, stämmig, vielleicht um die vierzig Jahre alt und hatte das blonde, längliche Haar zu einem enganliegenden Zopf geflochten.
„Fahren sie zufällig nach Sinsheim?“
„Basel“, sagte die Frau und betrachtete Melanie prüfend. „Warum?“
„Das … also, das heißt, dass sie nach Süden fahren, oder?“
„Also, das letzte Mal, als ich da war, lag die Schweiz noch im Süden. Hoffe mal, das ist immer noch so.“ Sie lachte rasselnd. „Willste mit, oder was?“
„Ja, genau!“
„Wie alt biste denn, Süße? Nicht, dass du von Zuhause abhaust, und ich helf dir auch noch dabei.“
„Zw… zwanzig. ZWEIundzwanzig“, korrigierte sich Melanie schnell. „Ich will ne Freundin besuchen. In Sinsheim. Kommen Sie da zufällig vorbei?“
„Zufällig nicht. Ich kann dich in Heidelberg rauslassen, wennde willst. Dann biste schon fast da.“
„Das wäre toll!“
„Na, dann spring mal rein. Geht gleich weiter.“

Melanie stieg vorsichtig die Leiter nach oben und setzte sich auf den Beifahrersitz. Es roch nach kaltem Zigarettenrauch. Die Kabine war wohnlich eingerichtet. Auf der Konsole lag eine kleine Häkeldecke, und eine Wackelpuppe aus Plastik in Form eines Hula-Girls war darauf geklebt. An der Rückwand der Kabine prangte ein großes LED-Kreuz.

Einige Minuten später öffnete sich die Fahrertür und die Truckerin kletterte herein.
„Dann wolln wir mal.“ Sie startete den Motor und legte den Gang ein. „Ich bin Irmie.“
„Melanie.“
„Melanie“, sagte Irmie, wobei sie das ‚ie‘ langzog, so dass es klang, als würde sie überlegen, wo sie den Namen schon einmal gehört hatte. „Und du willst also zu deiner Freundin nach Sinsheim.“ Der Lastwagen rollte vom Gelände der Tankstelle.
„Genau.“
„Hm-m.“ Irmie bog nach rechts ab und hielt an einer Kreuzung. Nachdem die Ampel auf Grün sprang, fuhr sie wieder nach rechts und ordnete sich auf die Linksabbiegerspur ein, die hinauf zur Autobahn führte.
„Und Zugfahren ist zu teuer? Oder was?“
„Tja, leider. Ich kann mir das gerade nicht leisten. Voll nett, dass Sie mich mitnehmen!“ fügte sie dann hinzu. „Ich hab mich ja noch gar nicht bedankt. Also, dankeschön!“
„Kein Ding“, sagte die Truckerin. „Kannst ruhig ‚du‘ sagen. Nee, is ja schön, wenn man mal n bisschen Gesellschaft hat. Machst du das denn öfter, so per Anhalter fahrn?“
„Ist ehrlich gesagt mein erstes Mal.“
Sie waren auf die Autobahn aufgefahren, und Irmie zog die Maschine hoch. „Tja, ich weiß ja auch nicht, ob ich dir jetzt raten soll, das öfter zu machen.“, sagte sie.  „Also, ich sag mal so: Alle Kollegen, die ich kenne, sind super Typen. Vor denen braucht keiner Angst haben, ja? Also, für die leg ich meinen Arm ins Feuer. Ach Quatsch: Beide Arme! Hundertprozentig! Aber …“ Sie wackelte mit dem Kopf, schnitt eine Grimasse und sah kurz zu Melanie herüber. „Es gibt da so n paar Vögel. Also, bei denen willst du nicht aufm Bock sitzen. Das glaub mal. Vor allen Dingen als Frau, sach ich mal. Is klar, was ich mein, ne?“
„Meinen s…, also, meinst du, dass die – einen betatschen, oder so?“
Irmie gluckste. „Joa, kann man so sagen, wa? Also, bisschen was anfassen oder bisschen was in den Mund nehmen, oder was weiß ich.“ Sie grinste und zeigte unregelmäßige, fleckige Zähne. Das Grinsen verschwand, als sie zu Melanie sah. „Nee, du, mach dir ma kein Kopp“, sagte sie schnell, „das sind echt die Ausnahmen. Die meisten sind voll okay. Die freuen sich einfach, nicht so alleine zu sein. Und so n hübsches Ding wie du an Bord zu haben, das ist dann ja auch, das ist ja … Na ja, weißt schon, oder? Alles halb so wild. – Ja, bist du denn wahnsinnig, oder was???“, brüllte sie auf einmal.

Ein Jaguar war so dicht vor ihr eingeschert, dass Irmie bremsen musste. Ohne zu blinken, wechselte er von ganz links nach ganz rechts auf den Verzögerungsstreifen der nächsten Ausfahrt. Die Truckerin ließ für mehrere Sekunden das mächtige Horn ihres Lastwagens ertönen und schüttelte ihre kleine Faust. „Idiot, ey!“, fauchte sie. „Die werden immer bekloppter, sach ich dir. Je reicher, desto bekloppter. Die denken, ihnen gehört die ganz Welt!“

„Also, was du eben meintest“, sagte Melanie, als Irmie sich wieder beruhigt hatte, „von wegen den Fahrern, mit denen man lieber nicht mitfahren sollte: Vorhin hab ich so einen Typen gefragt, ob er mich mitnehmen kann. Das war ein ganz schmieriger Kerl … Glaubst du, das könnte so einer gewesen sein?“
„N Trucker?“
„Ja.“
„Wie hat der ausgesehen?“
„Ganz fettige, schwarze Haare, Dreitagebart, dicke Augenbrauen …“
„Deutscher?“
„Nee, eher Rumäne oder Pole oder so.“
„Gregor.“
„Was? Ich meine, wie bitte?“
„Muss Gregor gewesen sein. Der war heute auch da. In Großen Linden. Is n netter Kerl, wir haben kurz geredet. Ich treff den manchmal auf dieser Route.“
„Du kennst den?“
„Ja, was denkst du denn. Türlich kennt man den einen oder anderen. Vor allem als Frau. Ist doch logisch.“
„Und der ist nett?“
„Gregor is n Schatz. Da hättste ruhig mitfahren können.“
„Ach … echt?“

Sie sagten eine Weile nichts. Am Gambacher Kreuz wechselte Irmie von der A 45 auf die 5 Richtung Frankfurt.
„Und du willst jetzt also deine Freundin in Sinsheim besuchen“, sagte sie.
„Ja, genau.“
„Na, zum Glück habt ihr schönes Wetter. Kann man im Oktober ja auch anders haben.“
„Ja, das ist echt gut.“
„Hast du n langes Wochenende?“
„Wieso?“
„Ich mein nur: Heut ist doch Donnerstag. Hast du schon frei, oder was?“
„Ja, äh, genau, also … Ja, ich hab heute schon frei.“ Melanie versuchte krampfhaft, natürlich und entspannt zu wirken, aber das Kribbeln in ihren Wangen verriet ihr, dass sie rot wurde. Als Irmie sie scharf ansah, wandte sie den Kopf ab und tat so, als würde sie die vorbeiziehende Landschaft betrachten.
„Was machste denn? Studierst du, oder machste ne Ausbildung? Oder was?“
„Ich studiere.“
„Und was?“
„Äh … Englisch“, sagte Melanie schnell und hoffte, die Truckerin würde nicht weiter nachhaken.

„Was kann man denn da so machen? In Sinsheim, mein ich, an einem schönen Herbsttag, mit einer Freundin?“ Irmie lächelte plötzlich. Bis eben hatte ihre Stimme recht hart geklungen. Jetzt bekam sie einen weicheren Tonfall.
„Keine Ahnung, also, ich bin noch nie dagewesen.“
„Wie alt biste denn wirklich, Süße?“, fragte Irmie nach einer kurzen Pause.
„W-wieso?“
„Na, hör mal: Ich bin nicht so doof wie ich vielleicht aussehe. Außerdem hab ich selber ne Tochter in deinem Alter. Du bist doch gar keine achtzehn, oder?“
Melanie gab sich geschlagen. „Siebzehn“, sagte sie. Sie war sich sicher, dass ihr Gesicht feuerrot leuchtete.
„Und was willste in Sinsheim? Wohnt da dein Freund, oder was? Biste von Zuhause abgehauen?“
„Nicht direkt. Also, da spielt ne Band. Und die will ich sehen.“
„Ach, guck. Geht gar nicht um Liebe, sondern um Musik, oder wat? Aber deine Eltern wissen nix davon?“
Melanie schüttelte den Kopf.
„Mögen die die Musik nicht? Die hätten dir doch n Zugticket kaufen können. Is doch gar nicht so weit von Gießen.“
„Mein Vater ist ein Arschloch. Und es geht eigentlich gar nicht um Musik. Ich will … ich will einfach …“

Melanie war drauf dran, der freundlichen Truckerin zu erklären, was sie wirklich vorhatte. Aber noch während sie nach den richtigen Worten suchte, kam sie sich plötzlich dämlich vor.

Was machte sie eigentlich hier? Sie saß in einem LKW auf der Autobahn anstatt in der Schule, um – was zu machen? Um mit irgendeinem Typen, der zufällig Musiker war, ins Bett zu gehen? Um ihrem Vater eins auszuwischen? Hatte sie sonst keine Probleme? Ihr war auf einmal alles so wahnsinnig peinlich, dass sie auf ihrem Sitz hin und her rutschte und nicht wusste, wohin sie schauen sollte.

„Ach Gottchen“, sagte Irmie, die das bemerkte. „Hast du zu Hause Probleme? Was macht dein Vater denn mit dir?“
„Nichts“, hauchte Melanie, „er ist einfach scheiße. Aber ich bin auch scheiße, irgendwie.“
Irmie schwieg, bis Melanie sich wieder gefangen hatte. „Was machen die denn für Musik?“, fragte sie dann.
„Punk. Oder so was Ähnliches.“
„Scheint dich nicht so doll zu interessieren, oder? Biste in einen von denen verknallt?“
„Nee. Ich wollte einfach nur … Sex.“ Sie sah die Truckerin beschämt an. „Bescheuert, oder?“
Irmies Ausdruck wechselte zwischen Belustigung und Entgeisterung hin und her. „Süße“, sagte sie, „du bist bestimmt nicht die erste, die so was macht. Aber ich weiß nicht … Glaubste wirklich, dass das ne gute Idee ist, dich an irgend nen Typen ranzumachen, nur weil du Probleme mit deinem Vater hast? Ich meine: Da wechselst du doch nur von Schwanzträger zu Schwanzträger. Das kann‘s doch auch nicht sein, oder?“
„Nee“, sagte Melanie.

„Was hörst du eigentlich für Musik?“, wollte sie irgendwann von Irmie wissen.
„Celine Dion.“ Die Augen der Truckerin glänzten, und ihre Wangen röteten sich etwas.
„Und … noch was?“
„Nee. Nur die. Kennste die?“
„Die hat doch das Lied in ‚Titanic‘ gesungen, oder?“
„Jaaaaaaa!“ Ein Lächeln glitt über Irmies Gesicht, das sie völlig veränderte. Die vorher so herb wirkende Frau hatte jetzt etwas Zartes, Offenes an sich, das Melanie berührte. „Kennste den?“
„Ja klar! Ich hab den drei Mal gesehen. Und du?“
„Mach mal das Handschuhfach auf.“ Irmie kicherte wie ein kleines Mädchen, während sie mit dem Kinn auf die Klappe direkt vor Melanie wies. Als sie sie öffnete, lag dort eine abgegriffene DVD-Hülle.
„Jeden Abend.“
Melanie starrte sie ungläubig an. „Du schaust den … jeden Abend?“
„Immer vorm Einschlafen.“
„Der geht drei Stunden, oder nicht?“
Irmie gluckste. „Meistens schlaf ich vor dem Ende ein. Ich kenn ja sowieso schon alles auswendig. Aber ich brauch das irgendwie. Ich kuschel mich dann da so schön in meine Koje, über mir die Glotze, und dann geht’s mir richtig gut. Dann bin ich richtig zu Hause. Mein Bock, mein Film, mein Bett. Mehr brauch ich nicht.“ Sie sah zu Melanie. „Kannste das verstehn?“
„Ich weiß nicht. Aber ich finds toll. Für dich, meine ich.“
„Hast du auch so was? Wo du dich richtig zuhause fühlst?“
„Nee.“ Melanie sah nach vorne auf die Fahrbahn. Der Asphalt glitzerte im Sonnenlicht.

Irmie holte tief Luft. „Ich sach dir mal was: LKW fahren ist gar nicht so toll. Die ersten Jahre fand ich es super. Die männlichen Kollegen warn zwar fast alle scheiße zu mir. Aber das war mir egal. Ich wollte fahren. Unterwegs sein. Und dann irgendwann hab ich den Stress gemerkt. Also, der war natürlich von Anfang an da, aber das war okay. Am Anfang. Aber irgendwann war das nicht mehr okay. Da wurde das schlimm. Und dann hab ich irgendwann auf diesen Beruf keine Lust mehr gehabt. Da hab ich es gehasst, mich auf den Bock setzen. Aber dann hab ich was geschnallt: Die Dinge sind nicht von alleine schön, die musst du dir schön machen. Weißt, was ich mein? Dein Zuhause ist vielleicht nicht von alleine schön. Aber dann musst du eben was dafür tun. Und Abhauen hilft schon mal gar nicht.“
„Und dann hast du angefangen, ‚Titanic‘ zu gucken?“
„Genau. Hilft nicht immer, aber meistens.“
Melanie nickte. „Ich glaub, ich sollte zurück nach Hause.“
„Glaub ich auch“, sagte Irmie.

Es gelang ihr, einen Kollegen zu erreichen, der die Route in die entgegengesetzte Richtung nach Norden fuhr und der bereit war, Melanie im Gewerbegebiet abzusetzen. Sie verließen die A 5 am Kreuz Heidelberg und fuhren über die A 656 in die Stadt hinein. Am Hauptbahnhof Heidelberg hielt Irmie an.
„Günnis LKW sieht genauso aus, wie meiner. Wenn du ihn siehst, winkst du, okay? Wenn er dich nicht sieht, fährt er weiter, also pass gut auf! Der ist jetzt noch auf Höhe Karlsruhe. Das kann noch ne knappe Stunde dauern. Kommt auf den Verkehr drauf an. Alles klar? Dann hüpf raus, ich muss weiter!“
„Danke, Irmie! Du hast mir echt geholfen!“
„Ach, echt? Hab ich gar nicht gemerkt.“ Irmie lachte rasselnd und steckte sich eine Zigarette an. „Pass auf dich auf, Süße.“
„Mach ich.“ Melanie schlug die Tür zu. Dann setzen sich die großen Räder in Bewegung.

Um kurz vor drei kletterte Melanie in Großen Linden aus dem LKW und winkte Günni zum Abschied. Eine Viertelstunde später stieg sie in den Bus Richtung Innenstadt, und gegen vier schloss sie die Haustür auf. Sie war nur ungefähr zehn Minuten später zu Hause als an jedem anderen Donnerstag. Ihre Eltern waren noch nicht von der Arbeit zurückgekehrt.

Als sie die Jacke an den Garderobenhaken hängte, merkte sie plötzlich, dass sie sich völlig zerschlagen fühlte. Sie hatte einen rasenden Hunger und hätte im Stehen einschlafen können.

Mit schleppenden Schritten ging sie hinunter in den Keller, öffnete die Tür des Gästezimmers und betrachtete die zerwühlten Betten der Musiker. Es roch nach Schweiß, Deodorant und Zigarettenrauch.

Ihr Abenteuer endete nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Aber das war okay. Schließlich hatte die Begegnung mit Irmie sie auf eine Idee gebracht, auf die sie anders sicher nicht gekommen wäre.

Sie wusste jetzt, wie sie sich an ihrem Vater rächen würde. Sie würde Truckerin werden.

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Wa(h)re Kunst

Am vergangenen Wochenende hatte ich eine schöne Begegnung mit einem befreundeten Sänger und Songwriter. Wir sprachen übers Songwriting, über unsere Lieder und Texte und über den Klassiker: die Spannung zwischen dem eigenen künstlerischen Anspruch und den Anforderungen des Marktes.

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Wie sehr muss sich die Künstlerin/der Künstler den Erwartungen der potentiellen Käufer anpassen oder eben doch einen eigenen Weg gehen? Ist Kunst eine Dienstleistung, weil man sich ja schließlich gerne dafür bezahlen lassen möchte? Oder ist die künstlerische Arbeit doch eher so etwas wie eine pädagogische Leistung, bei der die Künstlerin/der Künstler die Leser/Hörer/Betrachter an die Hand nimmt und sagt: ‚Komm mal mit, ich zeig dir mal was …‘

Wahrscheinlich beides. Aber manchmal kommt es dabei eben zu Konflikten, die sich nicht immer mit einem Kompromiss lösen lassen. Manchmal muss ich als Künstler sagen: ‚Das muss so. Ob du das verstehst oder nicht, ist zweitrangig.‘

Klar, die eigenen Hör- und Seh-Gewohnheiten spielen dabei eine wichtige Rolle. Mein Freund fand zum Beispiel, dass mein erstes Musikalbum ‚Neue Helden‘ ein ‚ziemliches Brett‘ gewesen sei. Ich stimmte ihm zu, musste aber später noch ein wenig über den Satz nachdenken. Wie hatte er das gemeint? Wahrscheinlich so, dass die Texte und die Musik kein Easy Listening sind, dass sie nicht ohne Weiteres nebenbei konsumiert werden können, dass sie Aufmerksamkeit einfordern.

Okay, da musste ich ihm recht geben. So wollte ich es ja auch. Andererseits kommt mir persönlich die Platte immer noch recht poppig vor. Auch meinen Roman TimTom Guerilla finde ich poppig. Na gut, er ist lang. Aber er liest sich leicht. Die Verkäufe sind allerdings schleppend. Wenn ich Glück habe, sind jetzt gerade mal dreihundert Exemplare verkauft.

Anfangs, als sich so gar kein Verlag dazu bereit erklären wollte, das Buch zu verlegen, war ich etwas angesäuert. Ein paar Monate nach der Veröffentlichung kann ich sie allerdings verstehen. Ein Buch ist schließlich auch nur ein stinknormales Produkt, das verkauft werden soll. Und bei diesem Buch war den Verlagen schnell klar, dass sich ein Deal nicht rechnen würde: ein unbekannter Autor schreibt einen dicken Roman über eine Punkband aus Bielefeld. Wenn man davon ausgeht, dass die meisten Leser die Autoren lesen, die sie kennen, möglichst nicht zu dicke Bücher in die Hand nehmen möchten und sich außerdem nicht besonders für Musik und schon gar nicht für Bielefeld interessieren, sind das ein paar Verkaufsgegenargumente zu viel. Das ist nachvollziehbar.

Ich bin trotzdem froh, dass ich das Buch über dieses Thema und auch in diesem Umfang geschrieben habe. Trotz aller Fehler, die es enthält, ist es ein gutes Buch, finde ich. Es ist kein sehr gutes Buch, aber es macht Spaß und hat inhaltlich genug zu bieten, über das man sich noch länger Gedanken machen kann, wenn man das möchte. So verstehe ich überhaupt guten Pop – eingängig genug, um Spaß zu machen, und tiefgründig genug, um nachzuhallen. Ich finde, das hat ganz gut geklappt.

Und was den Umfang angeht, denke ich auch jetzt noch, dass die Geschichte ihn benötigt hat. Mir war in der Erzählweise ein quasi-dokumentarischer Zugang wichtig, bei dem nun einmal viele alltägliche Details eine Rolle spielen, ob es nun das Wetter oder deutsche Straßen und Städte sind. Der Ich-Erzähler sollte ein möglichst sachlicher, autistoider Beobachter sein, der der Handlung manchmal ein wenig entrückt ist. Auf diese Weise konnte er meine Kamera sein, die zwar bei allem dabei ist und alles aufzeichnen, aber nicht immer Gefühle deuten und schon gar keine Gedanken lesen kann. Diese Arbeit müssen sich die Leser selbst machen. So zu schreiben setzt aber voraus, dass man vielen Einzelheiten Beachtung schenkt, und das braucht halt Platz.

Natürlich ist der Roman manchmal derb. Aber abgesehen davon, dass so nun einmal das Leben ist und dass das auch dem Realismus geschuldet ist, gefällt es mir. Haben wir nicht schon genug vermeintlich ‚Schönes‘? Brauchen wir wirklich noch mehr Geschenkband-Ästhetik? Ich finde nicht.

Tja, der Markt und die Kunst, die Kunst und der Markt, die Markt und der Kunst. Wofür soll man sich im Zweifel entscheiden? Wenn‘s geht, für beides. Aber wenn’s nicht geht?

Dann sollte Kunst vor allem dem gefallen, der sie betreibt. Oder? Denn wenn es nicht so ist, wenn sie sich ausschließlich nach dem Publikumsgeschmack richtet, wenn sie nur noch Dienstleistung ist oder eine Ware, dann stellt sich irgendwann die Frage, ob das, was man da so macht, wirklich noch Kunst ist oder nicht doch schon Werbung oder Herrscherlob oder Entertainment oder so. Was ja alles an sich nichts Schlechtes ist.

Nur eben keine Kunst.

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Wie ich Songs schreibe

Als ich ein älterer Jugendlicher oder vielleicht auch junger Erwachsener war (so genau weiß ich das nicht mehr), hatte ich, was das Schreiben von Liedern angeht,  eine wichtige Erkenntnis: Ich kann das. Damit meinte ich nicht, dass ich mich für besonders begabt hielt, Lieder zu schreiben. Es war vielmehr die ganz banale Erkenntnis, dass ich Worte und Töne miteinander verbinden konnte und dass auf diese Weise ein Lied entstand.

Ich hatte einen ziemlich schlechten englischen Text verfasst, eine Art Gedicht, und dann in einem Anfall von Wagemut mir dazu mehr oder weniger passende Töne ausgedacht. Und siehe – ein Lied war entstanden. Wie gesagt, es war ein schlechtes Lied. Aber davon abgesehen könnte ich es heute noch singen. Ich war total beeindruckt: Plötzlich war etwas da, das es vorher noch nicht gegeben hatte, weil ich es mir ausgedacht hatte.

Ich hatte bisher gar nicht gewusst, dass ich das überhaupt durfte! Dafür waren nach meinem Verständnis andere zuständig: begabtere, geschultere, wichtigere, berufenere Menschen. Dass ich nun einfach so versucht hatte, mir ein Lied auszudenken, hatte nach meinem Empfinden etwas Anmaßendes an sich. Aber nun war es passiert, einfach so.

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Auch heute noch besteht das Schreiben von Liedern für mich vor allem in der ganz banalen Tätigkeit, Worte und Töne miteinander zu verbinden. Ich denke Musik vor allem in einzelnen Tönen, nicht so sehr in Harmonien. Wenn ich mir einen Ton vorstelle und wenn ich mir eine Tonfolge ausdenke, ‚höre‘ ich die Harmonien im Hintergrund. Ich könnte sie aber nicht benennen. Mein musiktheoretisches Know How ist zu unterentwickelt, es besteht nicht in solidem Wissen, sondern beruht eher auf Gefühl und Intuition. Ich kann also zu jeder Akkordfolge spontan eine Melodie improvisieren. Aber ich habe keine Ahnung, was genau ich da tue. Das, würde ich sagen, unterscheidet mich von ‚echten‘ Musikern.

Doch obwohl ich mich selbst nicht als Musiker sehe, kann ich trotzdem Lieder schreiben. Denn ich ‚höre‘ ständig Musik. In Wahrheit höre ich sie nicht wirklich. Bei uns zu Hause läuft fast nie laut Musik. Sie ist in meinem Kopf, und zwar ständig. Als Jugendlicher hielt ich das für ein Problem. Wenn ich morgens aufwachte, hörte ich den Song, den ich am Vortag rauf- und runtergespielt hatte. Wenn ich mit dem Fahrrad zur Schule fuhr, hörte ich einen Beat, passend zum Rhythmus der Pedale. Wenn ich mich im Unterricht langweilte, trommelte ich Rhythmus-Pattern auf der Tischplatte. Mir machte das ein bisschen Sorgen. War mir die Musik vielleicht zu wichtig? Oder war ich vielleicht nicht ganz normal?

Heute mach ich mir keine Sorgen mehr. Es ist einfach so, ich ‚höre‘ Musik, Licks, Hooklines, Beats oder ganze Melodien, Selbsterdachtes oder Neulichgehörtes, egal. Sogar Sprache hat für mich einen musikalischen Klang. Worte und Töne verbinden sich für mich quasi von selbst, Sätze sind als Wortfolgen gleichzeitig Tonfolgen und daher Melodien. Für das Schreiben von Liedern ist das natürlich hilfreich. Wenn ich mir einen Song ausdenke, dann kann es sein, dass ich zunächst eine griffige Zeile im Kopf habe. „Hierum, darum / lirum, larum, Löffelstil / Ich weiß, ich weiß nicht viel …“ (Lirum Larum von TimTom Guerilla) Die Töne folgen fast automatisch. Umgekehrt kann es aber auch sein, dass ich eine kurze Sequenz von Tönen im Kopf habe, die ich in Gedanken immer und immer wiederhole, bis sie sich glatt und griffig geschliffen hat. Dann folgen Worte, die wiederum Einfluss auf die Töne haben, usw.

Da mein iPhone mein ständiger Begleiter ist, nehme ich hin und wieder einzelne Ideen, Melodien oder Licks auf. Ich singe sie dann einfach ins Mikrofon, laut, wenn ich zum Beispiel alleine im Auto sitze, eher leise, wenn ich zum Beispiel mit dem Zug reise. Für Texte, die mir spontan kommen, gibt es die Notiz-App. Die besten Momente, um kreative Ideen zu sammeln, sind Momente des Müßiggangs. Wir Preußen haben zwar mal gelernt: ‚Müßiggang ist aller Laster Anfang!‘ Aber das ist Quatsch. In Wirklichkeit braucht man Muße, um kreativ zu sein. Gut also, wenn man zur Muße gezwungen ist: beim Kinderhüten auf dem Spielplatz, im Zug, an einem langweiligen Sonntagnachmittag … In diesen Momenten kommen die besten Ideen. Oder wahrscheinlich kommen sie gar nicht. Sie sind schon lange da und werden nun endlich wahrgenommen.

Wenn ich einen Song schreibe, erlaube ich mir alles. Ich belaste mich nicht mit einer Aussage, die ich machen will. Ich interessiere mich nicht dafür, was ‚man‘ (wer soll das sein?) so macht oder nicht macht. Gut ist, was mir gefällt. Wenn mir eine gute Idee einfällt, zieht sie eine weitere nach sich. Wenn ich dagegen anfange, mühsam zu konstruieren, weil eine Idee nur halb, aber nicht ganz stimmig ist, blockiere ich. Dann ist es besser, sie wieder fallen zu lassen, auch wenn sie vielversprechend war. Ich bin in dieser Hinsicht gerne verschwenderisch. Wo die eine Idee herkam, gibt es noch mehr. Ich brauche sie nicht horten, nicht krampfhaft festhalten, nicht mühsam zurecht biegen. Es passt nicht? Vergiss es! Fang noch mal an.

Mir gefällt das Schlichte, Leichte. Wenn es auch intelligent sein soll, braucht es natürlich Tiefe. Aber diese Tiefe kommt nicht in den zwei Stunden zustande, in denen ich an dem Lied arbeite. Sie entsteht vorher, in den Wochen, Monaten und Jahren, in denen ich damit beschäftigt war, Krisen zu überstehen, Gefahren zu trotzen, Erfolge zu feiern, mich neu zu verlieben (in meine Frau natürlich) oder einfach nur nicht zu verzweifeln. Für ein Lied schöpft man aus dem Fundus, den man sich vorher Jahre lang und mühsam aufgebaut hat.

Jetzt habe ich Worte, Sätze, Reime, die mir gefallen, ich habe Tonfolgen, Rhythmen, griffige Motive. Und nun? Wird gefeilt. Bei mir heißt das Summen, Singen, Pfeifen, Grübeln, bis es sitzt. Das passiert nebenbei beim Kochen, Wäsche aufhängen, Autofahren usw. Es muss leicht gehen, es muss gleiten, es muss grooven, es muss eine natürliche Selbstverständlichkeit haben. Ich muss das Gefühl haben, dass es klingt, als müssten die Wortfolgen und Tonfolgen genau so sein und nicht anders (auch wenn man, wie im Leben, immer eine Alternative hat). Wenn meine Familie ein Lied summt oder pfeift, das sie noch gar nicht kennen kann, weil es eigentlich nur in meinem Kopf existiert, dann ist das ein gutes Zeichen.

Wenn ich mir sicher bin, dass Worte und Melodie so sind, wie sie sein sollen, beschäftige ich mich mit den Harmonien. Das ist, als Nichtmusiker, meine größte Hürde. Ich stöpsle deshalb meinen Midi-Controller an mein iPad, krame das kleine Bisschen Musiktheorie hervor, an das ich mich erinnern kann, und bestimme die Tonart und Akkordfolgen. Dabei hilft mir Apples wunderbare App ‚Garageband‘. Die gibt mir nämlich gleich alle Akkorde an, die zu einer Tonart gehören.

So ist das bei mir. Bei anderen ist es total anders. Aber das ist doch das Schöne, das, wie der Weg dorthin auch aussehen mag, am Ende neue, schöne Dinge dabei herauskommen, Dinge, die es vorher so noch gar nicht gegeben hat.

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Von der Wichtigkeit des Unnützen

Gestern habe ich in Franken eine junge Künstlerin getroffen. Ich hatte bei einem Gottesdienst gesprochen und mich wie gewöhnlich als Künstler aus Marburg vorgestellt. Allein das war Grund genug für sie, nach meiner Predigt nach vorne zur Bühne zu kommen und nach meiner Kunst zu fragen.

Während meines Vortrages hatte ich meine sonstige Arbeit gar nicht erwähnt. Nur zur Einführung, als ich mich vorstellte, hatte ich kurz gesagt, was ich zuletzt gemacht habe und womit ich mich zurzeit beschäftigte. Ansonsten ging es um etwas völlig anderes.

Sie aber sprach mich auf meine Kunst an. Ich vermute, das lag daran, dass es eben nicht häufig vorkommt, dass sich jemand selbst als Künstler bezeichnet, ja das auch noch als seinen Beruf angibt. Die meisten Leute verwechseln das Wort ‚Kunst‘ mit ‚etwas sehr gut können oder machen‘. Ein Künstler ist dann jemand, der etwas sehr gut kann – oder so tut als ob. Ansonsten gilt Kunst als etwas, über das man sich freut, wenn man es sich leisten kann, das aber ansonsten nicht weiter wichtig ist und auf das man gut verzichten kann, weil es keinen Nutzen hat.

Diese junge Künstlerin sah das offenbar anders. Vielleicht wusste sie auch nicht, ob sie das anders sehen durfte. Denn wenn man jung ist und in einem Umfeld lebt, in dem die Dinge eben so gesehen werden (und das evangelikale Umfeld, in dem auch die Veranstaltung stattfand, ist in der Regel so eines), ist es schwer, eine andere Meinung zu den Dingen zu vertreten. Das erfordert unglaublich viel Selbstbewusstsein. Wie soll man das aufbringen, wenn man jung ist und dann auch noch – ausgerechnet – Kunst macht?

Ich glaube, sie sah in mir einen Verbündeten, einen Gesinnungsgenossen. Und sie freute sich, als sie mir eine Zeichnung von sich zeigte und ich nur staunen konnte, weil dieses Bild wirklich unglaublich schön und auf den Punkt gearbeitet war. Dieses Bild war einfach gut, die naive Zeichnung eines Halbmondes, die sehr kunstvoll coloriert worden war.

Ich hoffe, dass ich nicht wie ein alter Mann klang, als ich ihr sagte, dass sie sich niemals einreden lassen solle, das, was sie treibe, wäre unwichtig. Ich sagte ihr, dass sie sich immer klarmachen solle, dass Menschen bereit wären, unglaublich viel Geld für den Urlaub auszugeben, und Kunst sei mindestens genauso wichtig wie Urlaub. Und dass Menschen jederzeit Geld für Brot ausgeben würden, und Kunst sei genauso wichtig wie Brot. Schließlich heißt es: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein …

Ich weiß nicht, ob sie verstand, was ich meinte, ich denke aber schon. Hoffentlich macht sie weiter. Es war wirklich ein verdammt gutes Bild.

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Timmy schaukelt

Unser Universitätsstädtchen hat einen Spielplatz, der direkt am Fluss liegt – nicht so unmittelbar, dass Kinder hineinplumpsen könnten, aber immerhin so nahe, dass man bequem zu ihm hinüberspazieren kann, selbst wenn man sehr kurze Beine hat.

Dieser Spielplatz wimmelt fast immer vor Menschen. Er ist voller engagierter Eltern, die ihre Sprösslinge rund um die Uhr fördern und fordern und sie wahrscheinlich nachts wecken, um sie im zarten Alter von drei Jahren zwischen den einzelnen Schlafphasen flugs ein paar Englischvokabeln abzufragen. Und er ist natürlich voller Kinder, kleine, nimmermüde, blond- und braungelockte Racker, die die Klettergerüste hinaufkraxeln, die Rutschen hinunterpurzeln, Sandburgen und -kuchen bauen und Käfer und Ameisen in einer Suppe aus Speichel und Matsch kochen. Kurz, es ist ein Ort des Schreckens.

So jedenfalls sah es Timmy. Meine Frau fand ihn hochspannend, weil sie mit Vorliebe die anderen Eltern beobachtete, während Jimmy an einem kleinen Bach am Rand des Spielplatzes Gefallen gefunden hatte, in dem er, wenn es warm war, auf allen vieren herumkriechen konnte, auch wenn er dabei aufpassen musste, dass er sich nicht an den zerbrochenen Flaschen schnitt.

Ich persönlich fand den Spielplatz nur in kurzen, eingestreuten Augenblicken interessant, nämlich immer dann, wenn sich eine junge Mutter über ein Kind beugte und ich in ihren Ausschnitt blicken konnte oder wenn sie sich auf den Rand des Sandkastens hockte, so dass ihre tiefsitzende Jeans ihren Po entblößte. Ansonsten langweilte ich mich tödlich.

Das lag sicher auch daran, dass wir auf einem Spielplatz nicht lesen konnten, so wie andere Eltern es taten, jedenfalls die, die ihren Kindern gerade keine Fremdsprachen beibrachten oder mit ihnen komplizierte mathematische Probleme lösten. Es gab nur einen Ort auf dem gesamten Spielplatz, an dem Timmy sich wohl und sicher fühlte, und das war die Schaukel.

Leider konnte er nicht alleine schaukeln. Wir mussten ihn anstoßen. Und weil Timmy andauernde, repetitive Bewegungen liebte, deren Reiz nicht etwa durch die Eintönigkeit geschmälert wurde, sondern deren Eintönigkeit ihren Reiz geradezu ausmachte, schaukelte er gerne lange.

Sehr lange.

Es war nichts Ungewöhnliches, wenn er fünfundvierzig bis fünfzig Minuten am Stück auf dem Schaukelbrett saß, hin und her schwang, die Welt dabei betrachtete und seinen Gedanken nachhing.
Selbstverständlich bedeutete das für uns, dass wir für dieselbe Dauer unseren Posten hinter oder vor ihm bezogen und ihn anschaukelten, während wir Eltern beobachteten, Müttern in die Ausschnitte starrten, uns irgendwie doch ein Buch vor die Nase hielten oder uns langweilten.

Derjenige, der nicht Timmy anschaukelte, passte derweil auf Jimmy auf, den wir bei diesen Gelegenheiten Gollum nannten, weil er der Figur aus ‚Der Herr der Ringe‘ zum Verwechseln ähnlich sah: Nur mit einer Windel bekleidet, krabbelte er über Felsen und durchs Wasser, während ihm sein schlaffes Stofftier, das auf den Namen ‚Klöterkuh‘ hörte, wie ein toter Fisch vom Mund herabhing. So vergingen die Nachmittage.

Es gibt Menschen, die behaupten, dass Spielplätze magische Orte seien, weil hier die Kindheit zum Leben erwache und weil jedes Klettergerüst und jede Rutsche zu einem sinkenden Piratenschiff oder einem gefährlichen Dinosaurier werden könne. Das ist natürlich Quatsch. Kinder brauchen keine Spielplätze, um die Welt magisch zu finden, das schaffen sie von ganz alleine. Im Gegenteil, eigentlich gibt es kaum etwas Prosaischeres als einen Kinderspielplatz, weil sie sich nämlich fast alle gleichen. Wir wissen das. Wir haben davon jede Menge gesehen.

Das lag daran, dass es eigentlich kaum eine andere Möglichkeit gab, Timmy vor die Haustür zu locken, als mit ihm Waschmaschinen im Waschsalon anzuschauen oder schaukeln zu gehen. In den Wald gehen war doof, Spazierengehen war doof, Versteckspielen, Fußballspielen, eine Schatzsuche machen – alles doof. Eisessen war gut und irgendwas mit Schokolade. Und eben Schaukeln.

Deshalb planten wir nicht nur unsere Ausflüge als Spielplatzbesuche, die sich über die ganze Stadt erstreckten. Nein, wir weiteten das Prinzip sogar auf unsere Urlaubsplanung aus: „Ich hätte mal wieder Lust auf die Nordsee“, konnte zum Beispiel ich an einem Samstagmorgen beim Frühstück sagen, worauf meine Frau antworten würde: „Okay, gibts da irgendwo einen Spielplatz?“

Ich werde nie vergessen, wie wir das erste Mal die einzige deutsche Hochseeinsel Helgoland besuchten. Es war einer dieser wahnwitzigen Tagesausflüge, für die man eine dreistündige Hin- und dreistündige Rückfahrt mit dem Dampfer bucht, nur um sich dann in einem Strom von Touristen für ein bis zwei Stunden über die Insel zu schieben. Als wir bei der Landung das Hafengebiet verließen und der Promenade am Wasser folgten, zeigte meine Frau strahlend mit dem Finger geradeaus. Sie hatte einen Spielplatz entdeckt. Es war damit noch nicht klar, ob der Inselausflug ein schönes Erlebnis werden würde. Aber die Chancen waren beträchtlich gestiegen.

Den Sommerurlaub, den wir zu viert in einem Campingmobil wagten, bezeichneten wir im Nachhinein als ‚Spielplatztour Deutschland‘, obwohl der nicht ganz zutreffend war, denn immerhin hatten wir sogar Spielplätze in den österreichischen und schweizerischen Gebieten nahe der deutschen Grenze besucht.

Den Spielplatz am Petersberg im thüringischen Nordhausen können wir nicht empfehlen. Er hat verschiedene, fantastische Klettervorrichtungen und ähnelt einem Fort oder einem Indianerdorf, weist aber leider keine Schaukel auf. Wirklich wunderbar dagegen ist der Spielplatz auf dem Gäbris in den Schweizer Voralpen. Eigentlich kann er nur mit einer Doppelschaukel und einem alten Trampolin aufwarten, das ganz hübsch ist, wenn man nicht zu schwer ist oder nichts dagegen hat, sich ein paar Wirbel zu brechen. Aber die Schaukel ist toll! Nachdem man sich an das Quietschen gewöhnt hat, genießt man die herrliche Aussicht auf die Alpen und stellt sich vor, man würde wie Heidi in den Himmel schaukeln. Das heißt natürlich, wenn man selbst auf dem Brett sitzt. Wenn man nur davorsteht und anschubst, ist es ein bisschen langweiliger.

Auch das Schweizer Winterschaukeln haben wir schon erlebt.  In Heiden in Appenzell gibt es einen wunderbaren Spielplatz mit einem Klettergerüst, das tatsächlich wie ein gesunkenes Piratenschiff aussieht, damit die Kinder es sich nicht mehr selber vorstellen müssen. Er hat eine Wasserpumpe, die einen künstlichen Bach speist, eine Art Karussell zum Selberanschieben, eine große Rutsche und eine wirklich große Schaukel. Er ist also nicht nur etwas für Schaukoholics, sondern auch für kleine Gollums, die in Ritzen und Löcher krabbeln möchten.

An einem sonnigen Wintertag, an dem ein halber Meter Neuschnee gefallen war, der danach schrie, dass man die Kinder warm einpackt und mit ihnen eine herrliche Schlittenwanderung macht, überredeten wir die muffeligen Autisten dazu, das Haus zu verlassen und mit uns wenigstens auf den Spielplatz zu gehen. Dort angekommen, traten wir den Schnee platt, der bis hoch zum Schaukelbrett reichte, setzten Timmy darauf  und bewegten uns für die nächste Stunde nicht mehr von der Stelle, während um uns herum Väter und Mütter ihre lachenden Kinder auf quietschbunten Plastikschlitten durch die Gegend zogen.

Der Spielplatz aber, der für uns eine zentrale Rolle spielen sollte und an den wir uns immer mit warmen Gefühlen erinnern werden, liegt ganz in unserer Nähe.

Wir entdeckten ihn, als der Einzug in unser neues Haus kurz bevorstand. Um dem Trubel der Innenstadt zu entgehen, in der tagsüber die Touristen und nachts die Studenten lärmen, hatten wir es gekauft und schickten uns an, in einen der langweiligsten Teile unseres Universitätsstädtchens zu ziehen, ein Viertel, in dem die Einfamilienhäuser, deren Besitzer sich ab Anfang vierzig auf den Lebensabend vorbereiten, dicht an dicht stehen und wo sich ein gepflegter Vorgarten an den anderen reiht.

Wir schlichen durch die Straßen und versuchten uns mit dem Gedanken anzufreunden, dass sich hier die nächsten Jahre unseres Lebens abspielen sollten. Schließlich entdeckten wir einen kleinen Platz, der sich beim Näherkommen als Spielplatz entpuppte. Aus weiterer Entfernung war das nicht zu erkennen gewesen: Es war ein umzäuntes Areal, auf dem sich ein hölzerner Unterstand, ein Sandkasten und eine Schaukel befanden. Die Schaukel stand in einer Art Kiesbett aus orangenem grobem Dreck. Das war alles. Der Tag war heiß, die Sonne brannte herab, und es fehlten eigentlich nur noch die Tumbleweeds, die der Wind, wie in einem Western, durchs Bild blies.

Aber es war ein Spielplatz. Also betraten wir ihn, und während meine Frau und ich uns auf eine Bank setzten, erkundeten die beiden Jungs das Gelände. Es dauerte nicht lange, bis ich wieder von der Bank aufstehen musste, denn Timmy wollte schaukeln.

„Mein Gott“, dachte ich, als ich ihm wieder und wieder Schwung gab. „Willst du das wirklich? Willst du hier wirklich leben?“ Zumindest hatte der Platz einen guten Ausblick. Er lag auf einem Hügel, so dass man von der Schaukel aus über das Tal und hinüber zum Schloss blicken konnte. Das aber war auch schon der einzige Vorteil, den ich erkennen konnte.

Natürlich täuschte ich mich. Manche Vorzüge lassen sich eben nicht auf den ersten Blick erkennen. Denn es stellte sich heraus, dass dieser Spielplatz ganz unbestreitbar einer der besten war von allen, die wir bisher besucht haben. Das fing schon damit an, dass er niemals von irgendjemandem außer uns genutzt wurde. Wann auch immer wir auftauchten, wir hatten unsere Ruhe. Natürlich konnte man so weder Eltern beobachten, noch ihnen in den Ausschnitt starren. Aber dafür wurden wir auch selbst nicht angestarrt oder mit beunruhigten Blicken verfolgt. Auch die Reizarmut war ein großer Vorteil. Dieser Spielplatz wollte uns keine untergehenden Piratenschiffe, von Kanonenkugeln beschossene Häuserfassaden oder Indianer-Tipis zeigen. Wir konnten einfach unseren Gedanken nachhängen. Timmy schaukelte, Jimmy baute Vulkane aus Sand und ließ sie stundenlang ausbrechen, und wir lasen oder dachten nach. Auf diesem Platz sind aus purer Langeweile Gedichte entstanden, die gar nicht mal schlecht sind. Er passte einfach zu uns. Von  außen betrachtet wirkte er öde. Aber wenn man sich auf ihn einließ, offenbarte er ungeahnte Reize.

Damals jedenfalls war das so. Heute gehen wir nicht mehr hin. Man hat ihn aufgehübscht: Es gibt eine neue Rutsche für Kleinkinder, Kletterpilze, und der orangefarbene Dreck wurde durch feinen weißen Sand ersetzt. Wann immer man daran vorbeikommt, hört man das Lachen spielender Kinder.
Das ist nichts für uns. Wir suchen uns einen neuen.

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