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Der gelangweilte Body Guard (aus der Reihe ‚Männer, die sitzen‘)

Eine Gruppe Jugendlicher hat sich vor einer Grotte versammelt. Sie wirken mäßig begeistert. Alle tragen sie blaue T-Shirts, die meisten weiße Sonnenhüte, was zeigt, dass sie sich nicht zufällig getroffen haben, sondern gemeinsam unterwegs sind. Ein Junge steht und liest etwas vor. Andere stehen nicht weit von ihm entfernt, lauschend, abwartend, als seien sie die nächsten, die etwas vorzutragen haben. Andere Jugendliche sitzen auf der Erde. Sie wirken so, als hörten sie zu. Vielleicht hängen sie aber auch ihren Gedanken nach. Zumindest scheinen sie den Vortragenden nicht zu unterbrechen. 

Nicht weit von ihnen entfernt sitzt ein Mann. Er ist nicht wirklich Teil der Gruppe, aber nah genug, um darauf schließen zu können, dass er dazu gehört. Außer seiner Kleidung und seinem kräftigen Körperbau kann man nichts von ihm erkennen. Er schützt sich energisch gegen die Sonne mit einem breitkrempigen hellen Hut, Jacke, langer Hose und einem hochgeklappten Kragen. Seine Stiefel sind schwer. Ihm muss warm sein. Wenn man sich derart gegen die Sonne schützen muss, muss sie kraftvoll sein. Aber offensichtlich schwitzt er lieber, als sich zu verbrennen.

An seinem rechten Hosenbund steckt in einem Holster eine automatische Pistole. Sie wirkt merkwürdig deplatziert in dieser friedlichen Szene freundlicher Langeweile. Warum trägt er eine Waffe? Bedroht er die Jugendlichen? Will er sie davon abhalten, davon zu laufen und etwas anderes zu tun, als Vorträgen über alte Grotten zu lauschen? Oder ist er zu ihrem Schutz da? Schutz vor wem? Wer sollte Jugendliche angreifen wollen, die sich mit historischen oder geologischen Studien beschäftigen?

Der Ort, an dem sich die Gruppe befindet, ist eine uralte Kultstätte. Sie wurde einst dem Gott Ba’al-Gad geweiht, später jedoch von den Seleukiden umgewidmet, als sie etwa 200 vor Christus ganz in der Nähe die Ptolemäer schlugen. Ihre bevorzugte Gottheit war Pan. Den Ort nannten sie Paneon. Später wandelte sich dieser Name zu Paneas. Und heute heißt er Banias. Er befindet sich im Hermon-Gebirge im Norden Israels. Auch die Bibel kennt ihn. Sie nennt ihn Cäsarea Philippi.

Jetzt wird auch klar, warum der Mann eine Waffe trägt und wie es zu diesem merkwürdigen Kontrast kommt zwischen der gelangweilten Schulatmosphäre und dem Tötungsinstrument an seiner Hüfte. Dieser Ort, dieses Land ist seit jeher umkämpft. Jederzeit ist es möglich, dass man irgendeiner banalen Sache nachgeht, Einkaufen zum Beispiel oder Busfahren oder ein Kaffekränzchen besuchen oder einen langweiligen Vortrag hören über eine ehemals heilige Grotte, und plötzlich eine Katastrophe erlebt. Natürlich, Katastrophen sind immer möglich, aber nicht überall auf der Welt bestehen sie darin, von einer Kugel getroffen oder mit einem Messer angegriffen zu werden oder einem Bombenattentat zum Opfer zu fallen. Nicht überall. Aber an vielen Orten der Welt. Dies ist einer davon. 

Es sind Sommerferien. Die Jahreszeit ist heiß, aber hier im hohen Norden Israels ist es erträglich. Zu Hause gibt es für diese Jugendlichen nicht viel zu tun. Stellenweise stammen sie aus schwierigen Verhältnissen. Deshalb gibt es Programme, die ihnen Abwechslung, Zeitvertreib und Bildung verschaffen. Sie sind an diesem Tag nicht die einzige Gruppe in der Gegend. Immer wieder begegnet man gelangweilten jungen Menschen in blauen, gelben oder grünen T-Shirts. Und sie alle werden begleitet von Männern verschiedenen Alters, die ausnahmslos automatische Schusswaffen bei sich tragen – Pistolen, Maschinenpistolen, auch Gewehre. Sie mustern vorbeigehende Passanten misstrauisch und wechseln die schwere Waffe von der einen in die andere Hand.

Den Schülerinnen und Schülern merkt man nicht an, dass sie die Situation für besonders aufregend halten. Es macht den Eindruck, als seien sie es gewohnt, von bewaffneten Männern begleitet zu werden, als sei es normal, dass sie Schutz vor Angriffen bräuchten. Vielleicht haben sie noch nie einen Angriff erlebt und halten die Vorsichtsmaßnahne für übertrieben. Vielleicht aber kennen sie auch persönlich Opfer solcher Attentate und haben sich mit der Tatsache abgefunden, dass das Leben in diesem Land so ist. Es gibt Menschen, die sterben durch Unfälle, andere werden erschossen oder in die Luft gesprengt. Shit happens.

Ob der Mann dem Vortrag des Jugendlichen lauscht, ist unklar. Vielleicht tut er es wirklich, während er die Gurte seines Rucksacks neu richtet. Vielleicht ärgert er sich über die Hitze oder darüber, dass sein Hintern weh tut, weil der Stein, auf dem er sitzt, drückt. Er macht nicht den Eindruck nervös zu sein, misstrauisch die Umgebung zu scannen, auf einen Angriff zu lauern. Auch von ihm geht ein Gefühl der Langeweile aus. Und darüber ist er sicher froh. Wenn alles gut geht, wird er heute Abend nach Hause gehen, ohne einen Schuss abgefeuert zu haben, mit der vagen Erinnerung an einen Schülervortrag über den Schrein des Pan im Gedächtnis und der Gewissheit, dass er sein Geld auf ziemlich bequeme Weise verdient hat.

Ob er irgendetwas über Pan weiß? Vielleicht erinnert er sich an dessen Ziegenfüße. Und dass er gerne Wein trank. Vielleicht macht er sich selber einen herrlichen Wein von den Hängen des Golan auf, die ganz in der Nähe sind, und prostet dem Gott zu. Vermutlich aber nicht. Wahrscheinlicher ist es, dass er ein Dosenbier öffnet und die Glotze anmacht.

Pan. Der Gott des Rausches, der Ekstase und der Besessenheit. Pan, Liebhaber und Beischläfer der Nymphen, Ausrichter legendärer Orgien, zu dessen Ehren die Menschen soffen und vögelten, was und wer immer sich dazu einfand. Hier. In dieser Grotte. Vor der die gelangweilten Jugendlichen stehen und sitzen, vor der er sitzt, auf einem harten Stein, schwitzend, mit einer Waffe am Gürtel, die er noch nie gezogen hat. Welch ein Kontrast. Das ist der Unterschied zwischen Theorie und Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die ihm hoffentlich nie begegnet.

Denn Pan kennt auch die Ekstase des Krieges. Er ist es, der den Feind panisch werden lässt, der ihn mit Schrecken erfüllt, damit man ihn leichter erschlagen kann. Sicher, eine Schlacht zu gewinnen ist gut. Aber pathetische Beschreibungen ruhmreicher ‚Kriegerpoeten‘ lesen sich angenehmer, wenn man in der Sicherheit seines Wohnzimmers hockt. Besser noch als ein siegreicher Kampf ist gar kein Kampf. Oder?

Oder wünscht sich der Mann, der sitzt, in Wirklichkeit heimlich, dass ihm irgendjemand einen Anlass geben möchte, seine Waffe zu ziehen und zu feuern? Sehnt er sich nach der Ekstase des Gottes, nach dem panischen Flackern in den Augen eines Feindes? Hätte er nicht doch Lust, sich mächtig zu fühlen, während das Adranlin die Explosion des Mündungsfeuers in seinen Ohren dämpft, während er den Griff seiner Pistole umklammert und den Rückstoß der Waffe durch den Arm bis hoch in die Schulter spürt?

Jetzt blickt er auf und sieht sich um. Aber es naht sich niemand. Bis auf diesen Touristen mit dem riesigen Fotoapparat. Die Schüler sind fertig, die Gruppe regt sich. Zeit, weiterzugehen.


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2 Kommentare

  1. Dieter Dieter

    „Denn Pan kennt auch die Ekstase des Krieges. Er ist es, der den Feind panisch werden lässt, der ihn mit Schrecken erfüllt, damit man ihn leichter erschlagen kann. Sicher, eine Schlacht zu gewinnen ist gut.“

    Definitiv nicht beim griechischen Pan.

    • Gofimueller Gofimueller

      „Er gieng aber auch mit dem Jupiter wider die Titanen in den Krieg. Hier bedienete er sich seiner Erfindung, wie man die Meermuschelhoerner, statt der Trompeten gebrauchen sollte, und versah mit dergleichen einen Haufen seiner Leute. Da es nun zum Gefechte kam, so ließ er sie jaehlings mit selbigen einen Laerm machen, wovor denn die Titanen erschracken und die Flucht nahmen.“
      Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexikon, Repograph. Nachdr. d. Ausg. Leipzig, Gleditsch, 1770. Darmstadt: Wiss. Buchges., 1996, S. 1859.
      „Also befand er sich auch mit unter dem Heere des Bacchus, und wies zuerst, wie sich dasselbe in Regimenter und Fluegel stellen sollte. Als ihnen die Feinde mit einem unzaehlbaren Heere auf den Hals kamen, so, daß Bacchus selbst in nicht geringe Furcht gerieth: so befahl er, sein Heer sollte des Nachts plötzlich einen Laerm mit seinen Trompeten und anderen Instrumenten, wie auch selbst mit seinem Geschreye darzu machen, so groß es nur konnte. Er hatte es dabey so gestellet, daß die Berge durch das Echo alles verdoppelten. Hierueber erschracken die Feinde dergestalt, daß sie eiligst die Flucht ergriffen und dem Bacchus den Sieg liessen.“
      ebd.
      „Er brachte auch nach der Zeit die Gallier vor Delph in die Flucht […] und leistete nicht weniger den Atheniensern wider die Perser Huelfe. Simonides ap. Nat. Com. l. c. Denn als solche zu den Spartanern um Beystand geschicket hatten, diese aber , aus Religionsgruenden, nicht eher, als den Vollmond, ausziehen konnten, so erschien Pan ihrem Gesandten auf dem Rueckwege bey dem Berge Parthenius, und versicherte ihn, ungeachtet der Athenienser sich eben nicht viel um ihn bekuemmerten, so waere er ihnen doch geneigt und wollte nach Marathon kommen und ihnen beystehen. Er hielt auch sein Wort treulich.“
      ebd. S. 1861
      „In Athen erhielt er nach der Schlacht bei Marathon eine Kultstätte als Dank für die Hilfe, die er den Athenern hatte zuteil werden lassen (vor der Schlacht war er dem athen. LäuferPhilippides bei Tega erschienen, Hdt. 6,105).“
      Lexikon der alten Welt, BAND 2 Haaropfer – Qumran, Augsburg 1994, S. 2204.

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