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Melanie rächt sich (TimTom-Guerilla-Kurzgeschichte)

Sie atmete erleichtert auf, als die Haustür ins Schloss fiel und die Schritte ihres Vaters sich entfernten. Ihre Mutter war schon vor einer halben Stunde zur Arbeit gegangen, und jetzt war sie allein. Allein mit fünf Männern, die noch schliefen.

Eigentlich musste auch sie sich auf den Weg zur Schule machen. Das Gymnasium war zwar nicht weit entfernt, aber zu Fuß würde sie gut fünfzehn Minuten brauchen, und es war schon kurz nach halb acht. Sie stand im Flur und betrachtete ihre Jacke, die am Garderobenhaken hing.

Die fünf Typen waren eine Punkband und ihr Manager. Dass sie ausgerechnet im Haus der Lüders übernachteten, war einem völlig verrückten Zufall zu verdanken, einem Zufall, wie ihn sich Melanie in ihren kühnsten Träumen nicht hatte ausmalen können.

Der Manager war ein alter Studienfreund ihres Vaters. Bernhard Lüders war der letzte, dem sie eine Bekanntschaft zu irgendjemandem aus der Kunst- oder Musikwelt zugetraut hätte. Er war korrekt, zuverlässig, erfolgreich, humorlos und streng. Sie hasste ihn, auch wenn sie sich das niemals anmerken ließ, sondern ihre Wut hinter einer Fassade aus Schweigsamkeit und Gehorsam verbarg.

Scheinbar hatte die Band für ihr gestriges Konzert kein Quartier gefunden. Deshalb hatte der Manager spontan ihren Vater gefragt, ob es möglich sei, dass sie bei ihnen übernachteten. Ihr Vater hatte geschäumt, als er die E-Mail gelesen hatte. Dann aber hatte er sein Einverständnis gegeben, nicht etwa aus Nachsehen, sondern weil er nicht als gastunfreundlicher Geizkragen dastehen wollte.

Gestern also hatte Melanie etwas getan, was sie in ihrem ganzen Leben noch nie getan hatte und was sie, das schwor sie sich hoch und heilig, auch nie wieder tun würde: Sie hatte zusammen mit ihrem Vater ein Rockkonzert besucht. Natürlich war es zu dem erwartbaren Fiasko gekommen.

Nach dem Auftritt, der ganz in Ordnung gewesen war, wollten die Musiker im Backstage-Bereich des Kulturladens noch ein wenig feiern. Und natürlich hatte Melanie gehofft, dass sie als Gastgeber mitfeiern würden.

Aber für ihren Vater war das überhaupt nicht in Frage gekommen. Er hatte alle aufgefordert, die Sachen zu packen und aufzubrechen, und dafür hatte er sie – ausgerechnet sie! –  als Vorwand benutzt: Es sei ja schon spät, und seine Tochter müsse am nächsten Tag wieder zur Schule gehen.

Melanie war außer sich gewesen. Aber auf der Fahrt von Wetzlar, wo das Konzert stattgefunden hatte, nach Gießen, wo das Haus der Lüders stand, hatte sie sich vorgenommen, sich an ihrem Vater zu rächen. Und sie wusste auch wie. Sie würde sich von einem der Musiker entjungfern lassen.

Ihr fielen mehrere gute Gründe ein, warum sie das Recht hatte, ihr Leben zu hassen: Ihr Vater war ein Arschloch, ihre Schulleistungen schlecht und ihr Freund ein Schlappschwanz. Aber ihr größter Kummer bestand darin, dass sie noch Jungfrau war.

Alle ihre Freundinnen hatten schon einmal mit einem Jungen geschlafen, die meisten mehrmals. Nur sie hatte das bisher noch nicht hinbekommen. Einmal, ein einziges Mal, war sie mit ihrem Freund allein zu Hause gewesen, weil die letzten beiden Schulstunden ausgefallen und ihre Eltern noch nicht von der Arbeit zurückgekommen waren. Sie hatten ein wenig geknutscht, und dann hatte sie ihm ihre Brüste gezeigt. Aber mehr war nicht passiert.

Als der braune SUV vor dem langweiligen Einfamilienhaus der Lüders hielt, stand ihr Plan fest. Heute Nacht würde sie im Bett eines der Musiker landen, in welchem war ihr eigentlich egal. Ihr Vater würde das niemals erfahren, aber sie würde sich immer wieder daran hochziehen, dass sie ihm eins ausgewischt hatte.

Natürlich kam alles anders. Die Band war müde und ihr Vater ein unsäglicher Gastgeber gewesen, der noch einen Streit mit dem Manager angezettelt hatte. Die Runde hatte sich deshalb ziemlich schnell aufgelöst.

Später hatte sie noch lange wach gelegen und sich über sich selbst, ihren Vater und auch die Musiker geärgert. Schließlich schlief sie mit dem Gedanken ein, dass vielleicht der morgige Tag eine Gelegenheit bieten würde, ihren Plan doch noch umzusetzen.

Nun stand sie im Flur und betrachtete ihre Jacke. Was hinderte sie daran, einfach zu Hause zu bleiben, zu warten, bis sie aufwachten und ihnen dann eine angenehme Überraschung zu bereiten? Jetzt war es doch sogar noch viel leichter als gestern.

Ihr Herz schlug laut, als sie behutsam die Treppen in den Keller stieg, sich vor die Tür stellte, hinter der die Musiker schliefen, und lauschte. Sie hörte ihr gleichmäßiges Atmen. Einer schnarchte. Was sollte sie tun? Melanie stieg leise die Treppe wieder nach oben und zog sich die Jacke an.

Als sie das Haus verließ, war sie unglücklich. Hier war ihre eine große Chance gewesen, nicht mehr ‚Papas Mädchen‘ zu sein, einen vielleicht unvorsichtigen, aber dafür eigenen Schritt zu gehen und sich selbst zu beweisen, dass sie cojónes hatte! Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und bog in die Alfred-Bock-Straße ein.

Wo würde die Band heute Abend spielen? Das war doch in Sins…, ja richtig, in Sinsheim. War das eigentlich weit weg? Sie kramte ihr Smartphone aus der Hosentasche und rief die Karten auf. Sinsheim, da war’s. Die Entfernung nach Gießen betrug hunderteinundachtzig Kilometer. Direkt um die Ecke lag es nicht. Mit dem Auto brauchte man laut Google knapp zwei Stunden. Es war andererseits also auch keine Weltreise. Aber wie sollte sie da hinkommen? Mit dem Zug vielleicht? Ach, Quatsch! Sie konnte doch nicht einfach nach Sinsheim fahren, nur weil sie ein paar Musiker treffen wollte.

Mein Gott, schimpfte sich Melanie selber aus. Kein Wunder, dass du immer noch Papas Mädchen bist. Jetzt wag doch endlich mal was!

Sie könnte mit den Musikern mitfahren, dachte sie. Sie könnte umkehren, nach Hause gehen, ihnen Frühstück machen und sie fragen, ob sie sie mitnehmen würden. Das wäre das Leichteste. Und auf der Fahrt würde sie einen von ihnen ein bisschen antörnen. Vielleicht den Bassisten mit dem Bart und den breiten Schultern, der hatte sie öfter angeguckt, und das noch nicht einmal besonders unauffällig. Ja, und dann würde er sie nach dem Konzert mit aufs Hotelzimmer nehmen. Und morgen – ach, das würde sich schon geben. Da konnte sie drüber nachdenken, wenn es soweit war.

Melanie blieb stehen. Sie würden sie nicht mitnehmen. Sie würden sie auslachen und ihr sagen, dass sie zu jung sei. Sie würden sie behandeln wie ein Kind. Und dann wegfahren. Das ging so nicht. Das musste anders laufen.

Wie teuer war ein Zugticket? Während sie langsam weiterging, rief sie die Seite der Bahn auf. Inzwischen war sie in der Keplerstraße und konnte das Schulgebäude sehen. Vierzig Euro. Eine Richtung. Also hin und zurück achtzig. Die hatte sie nicht. Zugfahren konnte sie vergessen.

Vielleicht würde Jasmin mitmachen? Die war schon achtzehn, hatte gerade ihren Führerschein bekommen und fuhr neuerdings einen alten Nissan Micra. Außerdem sah sie nicht schlecht aus. Sie hatte einen ziemlich guten Busen und tat viel für ihren Arsch. Sie könnte eine sinnvolle Verstärkung sein. Melanie musste nur aufpassen, dass Jasmin ihr nicht den Bassisten ausspannte. Das würde die Bedingung sein! Melanie würde Jasmin der Band vorstellen, aber nur unter der Bedingung, dass sie sich einen von den anderen aussuchte.

Es war zehn nach Acht, als Melanie die Schule erreichte. Der Hof war leer, der Unterricht hatte begonnen. Wenn sie ihren Plan wirklich umsetzen wollte, dann sollte sie gar nicht erst in der Schule auftauchen, dachte sie. Am besten wäre es, wenn die Lehrer sie für krank hielten. Vergiss Jasmin. Du machst das alleine. Aber wie? Wie komme ich da hin?

Per Anhalter. Natürlich! Wie denn sonst? Ich frag einfach einen LKW-Fahrer. Die nehmen doch immer gerne mal ein Mädchen mit. Sie dachte nach und beschloss, dass das Gewerbegebiet der geeignetste Ort war, eine Mitfahrgelegenheit zu finden. Das befand sich direkt an der Autobahn, und da hielten immer wieder Trucker, um was zu essen oder Pause zu machen. Der Bus dorthin hielt hier ganz in der Nähe. Sie warf sich die Schultasche über die andere Schulter und marschierte los.

Um etwa zwanzig vor neun öffneten sich die Türen des Busses, Melanie stieg aus und sah sich um. Sie würde erst einmal bei Burger King frühstücken. Wer wusste schon, wann sie das nächste Mal etwas zu essen bekommen würde? Allmählich fiel die Anspannung von ihr ab, und sie begann sich zu freuen. Sie hatte sich wirklich getraut! Sie war einfach losgegangen!

Anderthalb Stunden später hatte sich ihre Stimmung deutlich verschlechtert. Es gab hier gar nicht so viele LKWs, wie sie vermutet hatte! Ein Fahrer, den sie bei einem Nickerchen in seiner Kabine aufgeschreckt hatte, war sofort bereit gewesen, sie einsteigen zu lassen. Es hatte sich um einen unrasierten, dunkelhaarigen Typen mit osteuropäischem Akzent gehandelt, und Melanie hatte sich hastig aus dem Staub gemacht. Ein anderer fuhr in die entgegengesetzte Richtung nach Norden. Das war alles.

Sie saß auf dem Bordstein der Tankstelle und versuchte die aufkeimende Mutlosigkeit zu bekämpfen, als ein LKW vorfuhr und an der Zapfsäule hielt. Die Tür öffnete sich, und aus der Fahrerkabine kletterte – eine Frau! Melanies Herz machte einen Satz. Ohne zu zögern stand sie auf und ging auf die Truckerin zu.

„Entschuldigung?“, sagte sie.
Die Frau wandte sich um und sah sie an. Sie war einen Kopf kleiner, stämmig, vielleicht um die vierzig Jahre alt und hatte das blonde, längliche Haar zu einem enganliegenden Zopf geflochten.
„Fahren sie zufällig nach Sinsheim?“
„Basel“, sagte die Frau und betrachtete Melanie prüfend. „Warum?“
„Das … also, das heißt, dass sie nach Süden fahren, oder?“
„Also, das letzte Mal, als ich da war, lag die Schweiz noch im Süden. Hoffe mal, das ist immer noch so.“ Sie lachte rasselnd. „Willste mit, oder was?“
„Ja, genau!“
„Wie alt biste denn, Süße? Nicht, dass du von Zuhause abhaust, und ich helf dir auch noch dabei.“
„Zw… zwanzig. ZWEIundzwanzig“, korrigierte sich Melanie schnell. „Ich will ne Freundin besuchen. In Sinsheim. Kommen Sie da zufällig vorbei?“
„Zufällig nicht. Ich kann dich in Heidelberg rauslassen, wennde willst. Dann biste schon fast da.“
„Das wäre toll!“
„Na, dann spring mal rein. Geht gleich weiter.“

Melanie stieg vorsichtig die Leiter nach oben und setzte sich auf den Beifahrersitz. Es roch nach kaltem Zigarettenrauch. Die Kabine war wohnlich eingerichtet. Auf der Konsole lag eine kleine Häkeldecke, und eine Wackelpuppe aus Plastik in Form eines Hula-Girls war darauf geklebt. An der Rückwand der Kabine prangte ein großes LED-Kreuz.

Einige Minuten später öffnete sich die Fahrertür und die Truckerin kletterte herein.
„Dann wolln wir mal.“ Sie startete den Motor und legte den Gang ein. „Ich bin Irmie.“
„Melanie.“
„Melanie“, sagte Irmie, wobei sie das ‚ie‘ langzog, so dass es klang, als würde sie überlegen, wo sie den Namen schon einmal gehört hatte. „Und du willst also zu deiner Freundin nach Sinsheim.“ Der Lastwagen rollte vom Gelände der Tankstelle.
„Genau.“
„Hm-m.“ Irmie bog nach rechts ab und hielt an einer Kreuzung. Nachdem die Ampel auf Grün sprang, fuhr sie wieder nach rechts und ordnete sich auf die Linksabbiegerspur ein, die hinauf zur Autobahn führte.
„Und Zugfahren ist zu teuer? Oder was?“
„Tja, leider. Ich kann mir das gerade nicht leisten. Voll nett, dass Sie mich mitnehmen!“ fügte sie dann hinzu. „Ich hab mich ja noch gar nicht bedankt. Also, dankeschön!“
„Kein Ding“, sagte die Truckerin. „Kannst ruhig ‚du‘ sagen. Nee, is ja schön, wenn man mal n bisschen Gesellschaft hat. Machst du das denn öfter, so per Anhalter fahrn?“
„Ist ehrlich gesagt mein erstes Mal.“
Sie waren auf die Autobahn aufgefahren, und Irmie zog die Maschine hoch. „Tja, ich weiß ja auch nicht, ob ich dir jetzt raten soll, das öfter zu machen.“, sagte sie.  „Also, ich sag mal so: Alle Kollegen, die ich kenne, sind super Typen. Vor denen braucht keiner Angst haben, ja? Also, für die leg ich meinen Arm ins Feuer. Ach Quatsch: Beide Arme! Hundertprozentig! Aber …“ Sie wackelte mit dem Kopf, schnitt eine Grimasse und sah kurz zu Melanie herüber. „Es gibt da so n paar Vögel. Also, bei denen willst du nicht aufm Bock sitzen. Das glaub mal. Vor allen Dingen als Frau, sach ich mal. Is klar, was ich mein, ne?“
„Meinen s…, also, meinst du, dass die – einen betatschen, oder so?“
Irmie gluckste. „Joa, kann man so sagen, wa? Also, bisschen was anfassen oder bisschen was in den Mund nehmen, oder was weiß ich.“ Sie grinste und zeigte unregelmäßige, fleckige Zähne. Das Grinsen verschwand, als sie zu Melanie sah. „Nee, du, mach dir ma kein Kopp“, sagte sie schnell, „das sind echt die Ausnahmen. Die meisten sind voll okay. Die freuen sich einfach, nicht so alleine zu sein. Und so n hübsches Ding wie du an Bord zu haben, das ist dann ja auch, das ist ja … Na ja, weißt schon, oder? Alles halb so wild. – Ja, bist du denn wahnsinnig, oder was???“, brüllte sie auf einmal.

Ein Jaguar war so dicht vor ihr eingeschert, dass Irmie bremsen musste. Ohne zu blinken, wechselte er von ganz links nach ganz rechts auf den Verzögerungsstreifen der nächsten Ausfahrt. Die Truckerin ließ für mehrere Sekunden das mächtige Horn ihres Lastwagens ertönen und schüttelte ihre kleine Faust. „Idiot, ey!“, fauchte sie. „Die werden immer bekloppter, sach ich dir. Je reicher, desto bekloppter. Die denken, ihnen gehört die ganz Welt!“

„Also, was du eben meintest“, sagte Melanie, als Irmie sich wieder beruhigt hatte, „von wegen den Fahrern, mit denen man lieber nicht mitfahren sollte: Vorhin hab ich so einen Typen gefragt, ob er mich mitnehmen kann. Das war ein ganz schmieriger Kerl … Glaubst du, das könnte so einer gewesen sein?“
„N Trucker?“
„Ja.“
„Wie hat der ausgesehen?“
„Ganz fettige, schwarze Haare, Dreitagebart, dicke Augenbrauen …“
„Deutscher?“
„Nee, eher Rumäne oder Pole oder so.“
„Gregor.“
„Was? Ich meine, wie bitte?“
„Muss Gregor gewesen sein. Der war heute auch da. In Großen Linden. Is n netter Kerl, wir haben kurz geredet. Ich treff den manchmal auf dieser Route.“
„Du kennst den?“
„Ja, was denkst du denn. Türlich kennt man den einen oder anderen. Vor allem als Frau. Ist doch logisch.“
„Und der ist nett?“
„Gregor is n Schatz. Da hättste ruhig mitfahren können.“
„Ach … echt?“

Sie sagten eine Weile nichts. Am Gambacher Kreuz wechselte Irmie von der A 45 auf die 5 Richtung Frankfurt.
„Und du willst jetzt also deine Freundin in Sinsheim besuchen“, sagte sie.
„Ja, genau.“
„Na, zum Glück habt ihr schönes Wetter. Kann man im Oktober ja auch anders haben.“
„Ja, das ist echt gut.“
„Hast du n langes Wochenende?“
„Wieso?“
„Ich mein nur: Heut ist doch Donnerstag. Hast du schon frei, oder was?“
„Ja, äh, genau, also … Ja, ich hab heute schon frei.“ Melanie versuchte krampfhaft, natürlich und entspannt zu wirken, aber das Kribbeln in ihren Wangen verriet ihr, dass sie rot wurde. Als Irmie sie scharf ansah, wandte sie den Kopf ab und tat so, als würde sie die vorbeiziehende Landschaft betrachten.
„Was machste denn? Studierst du, oder machste ne Ausbildung? Oder was?“
„Ich studiere.“
„Und was?“
„Äh … Englisch“, sagte Melanie schnell und hoffte, die Truckerin würde nicht weiter nachhaken.

„Was kann man denn da so machen? In Sinsheim, mein ich, an einem schönen Herbsttag, mit einer Freundin?“ Irmie lächelte plötzlich. Bis eben hatte ihre Stimme recht hart geklungen. Jetzt bekam sie einen weicheren Tonfall.
„Keine Ahnung, also, ich bin noch nie dagewesen.“
„Wie alt biste denn wirklich, Süße?“, fragte Irmie nach einer kurzen Pause.
„W-wieso?“
„Na, hör mal: Ich bin nicht so doof wie ich vielleicht aussehe. Außerdem hab ich selber ne Tochter in deinem Alter. Du bist doch gar keine achtzehn, oder?“
Melanie gab sich geschlagen. „Siebzehn“, sagte sie. Sie war sich sicher, dass ihr Gesicht feuerrot leuchtete.
„Und was willste in Sinsheim? Wohnt da dein Freund, oder was? Biste von Zuhause abgehauen?“
„Nicht direkt. Also, da spielt ne Band. Und die will ich sehen.“
„Ach, guck. Geht gar nicht um Liebe, sondern um Musik, oder wat? Aber deine Eltern wissen nix davon?“
Melanie schüttelte den Kopf.
„Mögen die die Musik nicht? Die hätten dir doch n Zugticket kaufen können. Is doch gar nicht so weit von Gießen.“
„Mein Vater ist ein Arschloch. Und es geht eigentlich gar nicht um Musik. Ich will … ich will einfach …“

Melanie war drauf dran, der freundlichen Truckerin zu erklären, was sie wirklich vorhatte. Aber noch während sie nach den richtigen Worten suchte, kam sie sich plötzlich dämlich vor.

Was machte sie eigentlich hier? Sie saß in einem LKW auf der Autobahn anstatt in der Schule, um – was zu machen? Um mit irgendeinem Typen, der zufällig Musiker war, ins Bett zu gehen? Um ihrem Vater eins auszuwischen? Hatte sie sonst keine Probleme? Ihr war auf einmal alles so wahnsinnig peinlich, dass sie auf ihrem Sitz hin und her rutschte und nicht wusste, wohin sie schauen sollte.

„Ach Gottchen“, sagte Irmie, die das bemerkte. „Hast du zu Hause Probleme? Was macht dein Vater denn mit dir?“
„Nichts“, hauchte Melanie, „er ist einfach scheiße. Aber ich bin auch scheiße, irgendwie.“
Irmie schwieg, bis Melanie sich wieder gefangen hatte. „Was machen die denn für Musik?“, fragte sie dann.
„Punk. Oder so was Ähnliches.“
„Scheint dich nicht so doll zu interessieren, oder? Biste in einen von denen verknallt?“
„Nee. Ich wollte einfach nur … Sex.“ Sie sah die Truckerin beschämt an. „Bescheuert, oder?“
Irmies Ausdruck wechselte zwischen Belustigung und Entgeisterung hin und her. „Süße“, sagte sie, „du bist bestimmt nicht die erste, die so was macht. Aber ich weiß nicht … Glaubste wirklich, dass das ne gute Idee ist, dich an irgend nen Typen ranzumachen, nur weil du Probleme mit deinem Vater hast? Ich meine: Da wechselst du doch nur von Schwanzträger zu Schwanzträger. Das kann‘s doch auch nicht sein, oder?“
„Nee“, sagte Melanie.

„Was hörst du eigentlich für Musik?“, wollte sie irgendwann von Irmie wissen.
„Celine Dion.“ Die Augen der Truckerin glänzten, und ihre Wangen röteten sich etwas.
„Und … noch was?“
„Nee. Nur die. Kennste die?“
„Die hat doch das Lied in ‚Titanic‘ gesungen, oder?“
„Jaaaaaaa!“ Ein Lächeln glitt über Irmies Gesicht, das sie völlig veränderte. Die vorher so herb wirkende Frau hatte jetzt etwas Zartes, Offenes an sich, das Melanie berührte. „Kennste den?“
„Ja klar! Ich hab den drei Mal gesehen. Und du?“
„Mach mal das Handschuhfach auf.“ Irmie kicherte wie ein kleines Mädchen, während sie mit dem Kinn auf die Klappe direkt vor Melanie wies. Als sie sie öffnete, lag dort eine abgegriffene DVD-Hülle.
„Jeden Abend.“
Melanie starrte sie ungläubig an. „Du schaust den … jeden Abend?“
„Immer vorm Einschlafen.“
„Der geht drei Stunden, oder nicht?“
Irmie gluckste. „Meistens schlaf ich vor dem Ende ein. Ich kenn ja sowieso schon alles auswendig. Aber ich brauch das irgendwie. Ich kuschel mich dann da so schön in meine Koje, über mir die Glotze, und dann geht’s mir richtig gut. Dann bin ich richtig zu Hause. Mein Bock, mein Film, mein Bett. Mehr brauch ich nicht.“ Sie sah zu Melanie. „Kannste das verstehn?“
„Ich weiß nicht. Aber ich finds toll. Für dich, meine ich.“
„Hast du auch so was? Wo du dich richtig zuhause fühlst?“
„Nee.“ Melanie sah nach vorne auf die Fahrbahn. Der Asphalt glitzerte im Sonnenlicht.

Irmie holte tief Luft. „Ich sach dir mal was: LKW fahren ist gar nicht so toll. Die ersten Jahre fand ich es super. Die männlichen Kollegen warn zwar fast alle scheiße zu mir. Aber das war mir egal. Ich wollte fahren. Unterwegs sein. Und dann irgendwann hab ich den Stress gemerkt. Also, der war natürlich von Anfang an da, aber das war okay. Am Anfang. Aber irgendwann war das nicht mehr okay. Da wurde das schlimm. Und dann hab ich irgendwann auf diesen Beruf keine Lust mehr gehabt. Da hab ich es gehasst, mich auf den Bock setzen. Aber dann hab ich was geschnallt: Die Dinge sind nicht von alleine schön, die musst du dir schön machen. Weißt, was ich mein? Dein Zuhause ist vielleicht nicht von alleine schön. Aber dann musst du eben was dafür tun. Und Abhauen hilft schon mal gar nicht.“
„Und dann hast du angefangen, ‚Titanic‘ zu gucken?“
„Genau. Hilft nicht immer, aber meistens.“
Melanie nickte. „Ich glaub, ich sollte zurück nach Hause.“
„Glaub ich auch“, sagte Irmie.

Es gelang ihr, einen Kollegen zu erreichen, der die Route in die entgegengesetzte Richtung nach Norden fuhr und der bereit war, Melanie im Gewerbegebiet abzusetzen. Sie verließen die A 5 am Kreuz Heidelberg und fuhren über die A 656 in die Stadt hinein. Am Hauptbahnhof Heidelberg hielt Irmie an.
„Günnis LKW sieht genauso aus, wie meiner. Wenn du ihn siehst, winkst du, okay? Wenn er dich nicht sieht, fährt er weiter, also pass gut auf! Der ist jetzt noch auf Höhe Karlsruhe. Das kann noch ne knappe Stunde dauern. Kommt auf den Verkehr drauf an. Alles klar? Dann hüpf raus, ich muss weiter!“
„Danke, Irmie! Du hast mir echt geholfen!“
„Ach, echt? Hab ich gar nicht gemerkt.“ Irmie lachte rasselnd und steckte sich eine Zigarette an. „Pass auf dich auf, Süße.“
„Mach ich.“ Melanie schlug die Tür zu. Dann setzen sich die großen Räder in Bewegung.

Um kurz vor drei kletterte Melanie in Großen Linden aus dem LKW und winkte Günni zum Abschied. Eine Viertelstunde später stieg sie in den Bus Richtung Innenstadt, und gegen vier schloss sie die Haustür auf. Sie war nur ungefähr zehn Minuten später zu Hause als an jedem anderen Donnerstag. Ihre Eltern waren noch nicht von der Arbeit zurückgekehrt.

Als sie die Jacke an den Garderobenhaken hängte, merkte sie plötzlich, dass sie sich völlig zerschlagen fühlte. Sie hatte einen rasenden Hunger und hätte im Stehen einschlafen können.

Mit schleppenden Schritten ging sie hinunter in den Keller, öffnete die Tür des Gästezimmers und betrachtete die zerwühlten Betten der Musiker. Es roch nach Schweiß, Deodorant und Zigarettenrauch.

Ihr Abenteuer endete nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Aber das war okay. Schließlich hatte die Begegnung mit Irmie sie auf eine Idee gebracht, auf die sie anders sicher nicht gekommen wäre.

Sie wusste jetzt, wie sie sich an ihrem Vater rächen würde. Sie würde Truckerin werden.

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