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Mut zur Weite – Eine Predigt

Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt. Hundertausende fliehen oder werden getötet. Ist es da wirklich sinnvoll, über Kunst nachzudenken? Ich glaube schon.

Diese Predigt habe ich am 6. März in meiner Kirchengemeinde UND/Marburg gehalten. Der Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine und der sich anschließende Krieg war bereits 12 Tage alt, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die Russen waren aber noch nicht so umfassend bekannt wie heute, auch wenn uns bereits schreckliche Nachrichten aus Mariupol erreicht hatten.

1.

Ich könnte mir vorstellen, dass du denkst, dass es in Zeiten wie diesen angemessenere Themen gibt, als ‚Kreativität und Kunst‘. Immerhin ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt. Wieder fliehen Hunderttausende. Wieder sterben Menschen. Sollte man da nicht über andere Sachen nachdenken? Über Feindesliebe, Barmherzigkeit, Gebet, über die Hoffnung, dass Gott uns trotz allem immer noch in seiner Hand hält?

Ich habe mal die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem besucht. Das ist ein großes Museum, wo Jüdinnen und Juden gedacht wird, die von den Nazis ermordet worden sind. Ihre Geschichten werden dort erzählt. Und es wird auch derer gedacht, die ihnen geholfen haben. Wenn du aus diesem Museum wieder herauskommst, kannst du eigentlich nur noch schweigen. Ich hab jedenfalls gebraucht, bis ich meine Sprache wiedergefunden habe.
Ein Raum hat mich besonders beeindruckt. Es ist ein Raum, der dem Warschauer Ghetto nachempfunden ist. In diesem Ghetto wurden Juden gefangen gehalten. Sie mussten unter schlimmsten Bedingungen leben. Sie waren vom Hungertod bedroht. Immer wieder wurden Freunde und Verwandte abtransportiert in die Lager und verschwanden für immer.
Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicky hat das Ghetto überlebt. Es gibt in dem Museum einen Raum, in dem ein Video von ihm läuft. Reich-Ranicky erzählt dort auf Deutsch, wie das Leben im Ghetto war. Und er berichtet, dass man sich regelmäßig in einem kleinen Café traf, um Dichterlesungen zuzuhören oder klassischen Konzerten.

Warum?
Wenn man von Hunger und von Mord bedroht ist, wenn man weiß, dass man öglicherweise bald stirbt, gibt es dann nichts Sinnvolleres zu tun, als Gedichte zu lesen, Musik zu hören, Bilder anzuschauen?

Manchmal nicht. Und zwar deshalb, weil Kreativität zum Kern des Menschseins gehört. Wenn dir das Menschsein abgesprochen wird, wenn dir dein menschliches Dasein verloren zu gehen droht, dann erfährst du hier, in der Kreativität, dass du immer noch Mensch bist.

So hat der ukrainische Schriftsteller Stanislav Aseyev ein Folterlager überlebt. Er war für 28 Monate in einem Konzentrationslager im Donbas eingesperrt und wurde schwer gefoltert. Er hat darüber ein Buch geschrieben: “Heller Weg – Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017 bis 2019”. Er hat in der Zelle alles aufgeschrieben, was er durchlitten hat, auf allem, worauf man schreiben konnte. Und so hat er geistig einigermaßen überlebt.

Kreativität und Kunst sind kein Luxus für schöne Tage. Sie sind Teil von dem, was uns zu Menschen macht. Es gibt kein Menschsein ohne Kunst. An den Wänden der Höhlen hat man Jahrtausende alte Zeichnungen gefunden. Wenn Du Mensch bist, bist Du kreativ, auch wenn du nicht malst, nicht schreibst, nicht Musik machst, nicht gerne dekorierst.

Jeden Tag wendest du kreative Techniken an: Du findest Lösungen für Probleme. Du beschreibst etwas mit Worten. Du erziehst deine Kinder. Du findest einen Weg um Geld zu verdienen. Du reparierst etwas. Du suchst dir bewusst deine Kleidung aus. Du kommst vom Friseur zurück, bist todunglücklich und betreibst Schadensbegrenzung.

Du bist kreativ! Jeden Tag! Woher hast du das?

Ich lese dir einen Bibelvers vor:
„Und Gott sprach: ‚Lasst uns Menschen machen in unserem Bild, uns ähnlich! … Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er ihn […]“ 1Mo1,26/27

Gott kreiert. Er erschafft. Seit das Universum existiert, erschafft Gott ständig Neues. Wir leben in einem ständig werdenden, sich ständig wandelnden Kosmos. Die kreative Kraft, die das bewirkt, ist Gott. Man kann eigentlich nicht sagen: Gott ist kreativ. Man müsste sagen: Gott ist Kreativität.

Und dieser Bibelvers sagt: Wir sind seine Ebenbilder. Kreativität ist Teil unseres Wesens als Menschen. Deshalb ist das Kreative, das Künstlerische ein Ort, an dem sich Gottheit und Menschheit häufig begegnen. Hier findet der Mensch nicht nur zu sich selbst, hier kann er auch zu Gott finden.

Was kannst du dafür tun, um ein Ebenbild Gottes zu sein? Gar nichts. Alles, was du tun kannst, ist dazusein. Das hast du mit jedem anderen großen Kunstwerk gemeinsam. Kunstwerke sind nicht dazu da, um einen Zweck zu erfüllen. Sie sollen keine Botschaft verkünden. Sie sollen nicht etwas Wichtiges verdeutlichen. Es ist kein Problem, wenn sie es tun. Aber das ist nicht der Grund, warum sie existieren. Sie werden dazu geschaffen, um dazusein.

Genau wie du. Du existierst um dazusein. Wenn du nicht da wärst, würde etwas fehlen. Oder eigentlich: Jemand. Du nämlich.

Weil wir Gottes Ebenbilder sind, leben wir das kleine Bisschen aus, das wir glauben, von Gott zu wissen: wie er ist, was er möchte, was er gutheißt und was nicht. Man könnte sagen, das ist ein künstlerischer Akt: Du predigst nicht, du verfasst keine Statements oder Manifeste, sondern du lebst. Du veranschaulichst das, was du glaubst. Und andere können sich das anschauen und sich darüber Gedanken machen.

In der Theologie nennt man das ‘Inkarnation’. Menschwerdung. Eigentlich: Fleischwerdung. Aber man könnte vielleicht auch sagen: Kunst. Du bist ein Kunstwerk. Du bist Gottes Kunstwerk.

2.

Es gibt etwas, das uns an Kunstwerken stört: Man versteht sie oft nicht. Sie sind so mehrdeutig. Mehrdeutigkeit finden wir unangenehm. Wir nehmen sie als Spannung wahr. Wir wollen wissen: “Ja, was stimmt denn jetzt: DAS oder DAS? Es kann doch nicht BEIDES bedeuten!”

Für unseren Glauben wünschen wir uns das auch: Eindeutigkeit! Je klarer, desto besser. Allerdings ist Mehrdeutigkeit gar nicht unbedingt ein Nachteil. Sie kann auch ein Vorteil sein. Sie ist sogar manchmal notwendig. Und vor allem ist sie schon immer ein Teil unseres Glaubens. Glaube fühlt sich in der Mehrdeutigkeit wohl. Das würde ich dir gerne ein bisschen erklären.

„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Dieses war im Anfang bei Gott. Alles wurde durch das dasselbe, und ohne dasselbe wurde auch nicht eines, das geworden ist. […] Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns […]“ Joh 1,1-3,14a

Das steht im ersten Kapitel des Johannesevangeliums. Merkwürdige Worte. Der Evangelist Johannes meint mit dem WORT die Kraft Gottes, mit der er die Welt erschafft und durch die er zu den Menschen spricht.

Johannes schildert, wie dieses Wort Mensch wird, eine konkrete Person zu einem konkreten historischen Zeitpunkt an einem konkreten Ort: Jehoschua von Nazareth, Sohn des Zimmermanns Josef, irgendwo um das Jahr Null unserer Zeitrechnung.

Man könnte denken: DAS WORT ist etwas sehr Eindeutiges. Und wenn es dann noch Mensch wird und spricht und handelt, dann wird es noch eindeutiger. Dann lässt es an Eindeutigkeit nichts mehr zu wünschen übrig.

Wirklich?

Es gibt vier Berichte über das Leben von Jesus. Sie berufen sich auf Augenzeugen. Wir nennen sie ‘Evangelien’. Und sie widersprechen sich. Nicht immer, nicht in allen Punkten, aber an wichtigen Punkten:

Warum weiß Markus nichts von einer Jungfrauengeburt, wenn das so wichtig ist, dass es sogar im Apostolischen Glaubensbekenntnis vorkommt? Warum weiß Lukas nichts von dem grauenhaften Kindermord in Betlehem und der Flucht der Familie von Jesus nach Ägypten? Wo hat Jesus seine Schüler berufen – in Galiläa oder am Jordan, wo Johannes getauft hat? Was waren die Ereignisse rund um die Auferstehung von Jesus, und in welcher Reihenfolge fanden sie wirklich statt?

Das ist das eine: Ein gelebtes Leben ist nicht immer eindeutig nachvollziehbar. Und dann gibt es diese Situationen, in denen das Handeln von Jesus nur schwer zu verstehen ist.

Zum Beipiel bei dieser Gelegenheit, als Jesus zum Essen bei einem bekannten Pharisäer eingeladen ist. Da kommt diese Frau herein, kniet vor ihm nieder, küsst seine nackten Füße, weint sie nass, trocknet sie mit ihren Haaren und salbt dann seine Füße. Für Situationen wie diese wurde das Wort ‘cringe’ erfunden. Eine eindeutig zweideutige Situation! Erotisch aufgeladen bis zum Gehtnichtmehr!

Laut Johannes hat Jesus gesagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ Dieser Satz scheint sehr, sehr eindeutig zu sein. Trotzdem sind in den vergangenen 2000 Jahren viele christliche Glaubensbekenntnisse entstanden. Meistens ergänzen sie sich. Manchmal widersprechen sie sich auch.

Jesus ist eine Person. Er ist keine systematische Theologie mit 1000 Buchseiten. Wir Christen sagen: Er ist das perfekte Ebenbild Gottes. Er ist unser Vorbild, unser Maßstab, unser Ideal. Und ist immer wieder ist er sehr schwer zu verstehen.

An Jesus ‚glauben‘, ihm ’nachfolgen‘, ‚mit ihm leben‘ – das ist ein bisschen so, als würde man ein Kunstwerk betrachten: Es begegnen dir immer wieder neue Fragen. Dein Leben nimmt eine Wendung. Du veränderst dich als Person. Und dann begegnest du Jesus neu und sagst: „Ich habe bisher immer gedacht, ich hätte dich verstanden. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.“ Und Jesus sagt dann vielleicht: „Erzähl doch mal: Wie geht’s dir eigentlich?“

Kann sein, dass dich das unruhig macht. Du denkst vielleicht: „Wenn alles so unklar ist, dann wird alles total schwammig. Woher soll man dann wissen, was gilt und was nicht, was wahr ist und was falsch?“

Aber das muss dich nicht verunsichern. Mehrdeutigkeit ist nicht Beliebigkeit. Mehrdeutigkeit heißt: Es gibt Raum. Raum für mehrere Deutungen. Raum für Bewegung. Raum für Begegnung. Raum für Dialog.

Wir können vom Judentum lernen. Jesus war Jude, seine Schülerinnen und Schüler auch. Sie lebten und dachten total in einem jüdischen mindset. Das, was wir das ‘Alte Testament’ nennen, war für sie einfach ‚Die Bibel‘.

Die Bibel wurde ursprünglich auf Hebräisch geschrieben und gelesen. Im Hebräischen schreibt man nur die Konsonanten. Es gibt keine Zeichen für die Vokale – a, e, i, o, u. Du musst also, wenn du die Texte im Original liest, die Vokale im Kopf ergänzen.

Jetzt kommt es immer wieder vor, dass mehrere Worte dieselbe Folge von Konsonanten haben. Ein Beispiel auf Deutsch: Dir begegnen die Konsonanten WRT – was heißt das? Wort? Wert? Wirt? Warte?

Was machst du jetzt? Jetzt musst du überlegen, was im Zusammenhang am meisten Sinn macht. Das funktioniert natürlich. Aber manchmal gibt es immer noch mehrere Möglichkeiten.

Was passiert mit einem Text, wenn in ihm immer wieder Worte auftauchen, die mehrere Bedeutungen haben können? Er wird mehrdeutig. Es öffnen sich Deutungsräume. Genau wie bei einem Kunstwerk. Mehrdeutigkeit ist nicht Beliebigkeit. Mehrdeutigkeit heißt: Es ist Raum da für mehrere Deutungen.
Deshalb gibt es im Judentum unterschiedliche Auslegungen derselben Heiligen Texte. Und die stehen gleichberechtigt nebeneinander. Manchmal stehen sie auch gegeneinander. Aber in der Summe ergänzen und bereichern sie sich.

Mehrdeutigkeit. Raum. Weite. Begegnung. – Das ist Teil des Glaubens. Und zwar: Schon immer, von Anfang an.

3.

Es braucht im Glauben und im Leben eindeutige Aussagen, zu denen man sich stellen kann, auf die man sich berufen kann. Ich gebe dir Recht. In manchen Situationen muss man klare Standpunkte beziehen. Auch Jesus hat klare, eindeutige Aussagen gemacht. Aber diese klaren, eindeutigen Aussagen wollen gelebt werden. Und wir machen die Erfahrung, dass sich im Lebensvollzug immer wieder neue Fragen stellen.

Diese Mehrdeutigkeit, diese Weite ist kein Nachteil. Sie ist kein Fehler, kein Kompromiss. Wir können sie verstehen als einen Raum, in dem Begegnung stattfindet: mit anderen Menschen, mit mir selbst, mit Gott.

Begegnung braucht Raum. Sie braucht physische Räume, wie diesen hier. Aber sie braucht auch geistige Räume. Sie braucht Platz und Weite. Deshalb sind die heiligen Texte mehrdeutig. Deshalb kommt Gott nicht als Buch auf die Welt, sondern als Baby. Deshalb macht die Gottheit uns zu seinen Ebenbildern und baut keine Roboter oder Klone. Deshalb ist Kunst wichtig. Jedes Kunstwerk ist ein kleiner Deutungsraum.

In der Welt herrscht Krieg. Nicht nur im Osten Europas. Auch in unserer Gesellschaft tobt ein Kampf um Deutungshoheiten: Welche Maßnahmen in der Pandemie sind die richtigen? Wer sagt die Wahrheit im Ukraine-Konflikt? Gibt es eine große Verschwörung? Wer ist Freund, wer ist Feind?

Wir als Gemeinschaft stehen mittendrin, zwischen allen Fronten. Was können wir dazu beitragen, damit die Situation nicht eskaliert, damit weiterhin Begegnungen und Gespräche möglich sind?

Lasst uns Raum schaffen. Lasst uns den Mut zur Weite haben. Es gibt Momente, in denen sind wir dazu aufgerufen, einen klaren Standpunkt zu beziehen. Es gibt andere Momente, in denen müssen wir den Mut haben, den Raum weit zu machen.

Wir können uns das leisten. Das ist Teil unseres Glaubens. Schon immer. Und unser Gebet ist, dass Gottes Geist uns darin anleitet, das Richtige zum richtigen Zeitpunkt zu tun.


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