Man könnte auf die Idee kommen, dass es etwas Wichtigeres zu tun gibt, als Geschichten zu erzählen, in Zeiten, in denen Kriminelle im Namen des Gottes, zu dem sie beten, Menschen mit Lastwagen totfahren, Nazis in aller Öffentlichkeit wieder vom totalen Sieg schwadronieren oder ein Ausbeuter, der seine Pubertät anscheinend nie wirklich abgeschlossen hat, zum mächtigsten Mann der Welt gewählt wird.
Die Energie, die man darauf verwendet, über zufällige Bekanntschaften im Zug oder Hotel nachzudenken oder erfolglose Punkbands aus Bielefeld oder kleine Autisten mit einem Faible für Waschmaschinen, könnte man auch in politische Aktionen investieren, um sich an die Seite der Schwachen und Unterdrückten zu stellen oder um vor Umweltzerstörung zu warnen oder um die Mächtigen in ihre Schranken zu weisen oder, so wie ich es früher getan habe, um Menschen das Evangelium zu erklären, weil schließlich auch das einen konkreten Einfluss auf gesellschaftliche und soziale Verhältnisse hat, und zwar einen positiven, wie ich meine.
Das könnte und sollte man alles tun. Und ich bin wirklich froh, dass viele Menschen, auch aus meinem Bekanntenkreis, das tatsächlich machen – während ich mir Geschichten ausdenke.
Es ist nämlich mit dem Geschichtenerzählen genauso wie mit dem Brötchenbacken: Irgendjemand muss es tun. Wir brauchen Geschichten, so wie wir Brötchen (oder von mir aus: Schwarzbrot, ECHTES Schwarzbrot mit VOLLKORNMEHL, nicht diesen gefärbten Quatsch vom Discounter) brauchen oder Urlaub oder Hobbys oder ein schönes Glas Wein. Wir brauchen sie tatsächlich. Sie sind wichtig, sie tun gut und helfen uns, unser Leben zu leben.
So ist es immer gewesen. Schon in den Kulturen, in denen es keine Schrift und keine Bücher gab und in denen ein brennendes Feuer Leben und ein erloschenes Feuer den möglichen Tod bedeutete, da versammelte man sich um die Herdstelle und erzählte sich Geschichten. Sie erklären uns unsere Welt. Sie verraten uns, wer wir sind und wie wir ticken. Sie lassen uns innehalten und wieder ein wenig klarer sehen.
Während meiner Studien an der Uni habe ich mich intensiv mit Filmen beschäftigt. Ich habe ihre Bildsprache analysiert und mir die Frage gestellt, warum Filme für so viele Menschen so derartig wichtig sind. Ich bin darauf gekommen (das habe ich in einem schlauen Buch gelesen, ich weiß nicht mehr in welchem), dass die Geschichten, die sie erzählen, den Menschen zumindest für 90 Minuten das Gefühl geben, dass die Welt in Ordnung ist. Dass sie einer Ordnung folgt. Dass es Gesetzmäßigkeiten gibt, die man kennen kann, so dass man das Leben in dieser Welt verstehen und vielleicht sogar ein wenig vorhersehen kann.
Das ist eine schöne Illusion. Es tut gut, für einen kurzen Moment an sie zu glauben, bis man dann wieder aus dem Kino auf die Straße tritt und eine SMS empfängt, in der der Lebenspartner die gemeinsame Beziehung beendet.
Das Bedürfnis nach Ordnung leuchtete mir damals sofort ein, als ich mich mit Filmen beschäftigte, aber natürlich, dachte ich, ist das eben nur eine Illusion, es ist ein Urlaub von der brutalen Wahrheit, dass nichts kontrollierbar und vorhersehbar ist. Aber damit hatte ich nicht recht. Nicht vollkommen zumindest.
Denn natürlich stimmt es: Niemand hätte voraussehen können, dass Trump Präsident der Vereinigten Staaten werden würde (bis auf die, die behaupten, dass das schon in Jesaja 45 prophezeit werde), niemand kann eine Krankheit erahnen oder einen plötzlichen Trauerfall usw. Das Leben ist mehr als komplex, es ist zuweilen chaotisch, und im Chaos blickt niemand mehr durch, außer Gott, aber der verrät nicht immer alles, und wahrscheinlich ist das auch gut so.
Andererseits gibt es im großen, komplexen Ganzen doch auch Dinge, die wir von der Welt und unseren Mitmenschen wissen können. Und das ist viel, viel mehr, als wir überhaupt zu wissen vermögen. Dieses Wissen aber hilft uns enorm weiter – oder würde uns weiterhelfen, wenn wir es besäßen. Tja, und da sind eben Geschichten so wichtig.
Es gibt ein Wissen über das Leben und die Welt, das nur durch Geschichten vermittelbar ist und nicht durch Sachbücher. Warum sonst wäre die Bibel voller Geschichten? Der Gott der Bibel ist ja nur anhand von Geschichten kennenzulernen – die anderer oder selbsterlebte. Erkennbar ist er (sie) nur durch seine Interaktionen mit Menschen und Menschengruppen. Und wer jemandem anderes erklären möchte, warum er an welchen Gott glaubt, der erzählt – na was wohl? – eine Geschichte: „Also, ich kann dir das auch nicht so genau erklären, aber ich habe Folgendes erlebt …“
Weil das so ist, heißt es in der Bibel: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem einzelnen Wort, das aus Gottes Mund hervorgeht.“ Ja. Geschichten zum Beispiel. Es ist also wichtig, Geschichten zu erzählen, genauso wie es wichtig ist, Brot zu backen, Kinder zu erziehen, Möbel zu bauen, Flüchtlinge in Schutz zu nehmen und den Nazis zu widerstehen. Und das Schöne ist: Die einen von uns machen manchmal dies, und die anderen von uns machen manchmal das. Und gemeinsam kriegen wir es hin.
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