Neulich betrat ein Junge das Gewölbe in Alsfeld, in dem ich meine aktuelle Ausstellung ‚Okay, ich lass Dich laufen‘ zeigte, ging auf diese Bilder zu und sagte: „Hä? Das ist ja nur Farbe.“ An einem anderen Abend, an dem ich in meiner Ausstellung saß, machte sich ein Mann die Mühe, das Etikett zu lesen, das zu den Bildern gehört. Er las: „Ich habe schon längst den Hafen der guten Gesinnung verlassen und bin aufs offene Meer des Wahnsinns hinausgefahren I-III“. Er lachte kurz und sagte: „Ich kenne mich mit diesen Dingen nicht so aus.“ Damit meinte er wahrscheinlich Kunst. Ich überlegte kurz, ob ich ihm etwas zu den Gemälden sagen soll, ließ es dann aber bleiben.
Dafür mache ich es jetzt. Wie so häufig in der Kunst (oder in der Wissenschaft oder im religiösen Glauben) begannen diese Bilder mit der Frage: „Was passiert eigentlich, wenn ich das mache?“ Ich experimentierte mit Farben und beobachtete, wie sie sich verhielten. Was dabei herauskam, erinnert mich an Wasseroberflächen in verschiedenen Zuständen. Ich weiß nicht, ob es Dir auch so geht, aber ich finde, dass es etwas Beruhigendes hat, wenn man auf ein Meer, einen See oder Fluss schaut. Irgendwann, wenn es einem gelingt, sich zu entspannen, sieht man dabei zu, wie Wind und Strömung das Wasser bewegen und wie das Licht immer neue Muster zeichnet. Diese Art, Wasser zu betrachten, ist eine Form der Meditation, würde ich sagen. Und ich finde, genau das funktioniert mit diesen Bildern auch. Sie sind recht groß. Und wenn man sich direkt vor sie stellt, füllen sie die ganze Sicht aus. Man kann sich also gewissermaßen in sie hineinversenken. Dabei haben sie unterschiedliche Wirkungen. Das türkisfarbene Bild hat für mich etwas beinahe Aggressives, während die Ruhe des gelben Gemäldes fast lethargisch wirkt, auch wenn ich das Leuchten des Gelbs mag. Ich denke dabei an ruhiges, flaches Wasser über hellen Sand.
Natürlich ist der Titel merkwürdig. Ich gebe zu, dass ich gelacht habe, als er mir einfiel. Er macht einen zunächst etwas ratlos. Aber wenn man über ihn nachdenkt, ist er gar nicht so schwer zu verstehen. Wenn jemand einen Hafen verlässt und aufs offene Meer hinausfährt, lässt er etwas Gewohntes, Sicheres hinter sich und macht sich darauf gefasst, dass ihm Dinge zustoßen können, die er nicht geplant hat. Es geht also ums Loslassen, ums Aufbrechen, darum, etwas zu riskieren. Das ist ein ziemlich häufig benutztes Bild (‚zu neuen Ufern aufbrechen‘). Was den Titel merkwürdig macht, ist die Tatsache, dass der Hafen der guten Gesinnung verlassen wird (Gute Gesinnung ist doch etwas Positives!) und auf das Meer des Wahnsinns hinausgefahren wird (Das ist doch etwas Negatives!).
Der Hafen der guten Gesinnung steht für das geordnete, normale, aufrechte Leben, das in den Bahnen verläuft, die man sich vorgenommen und zurechtgelegt hat. Das Meer des Wahnsinns ist die Zukunft, in der all diese Regeln und Bahnen keine Gültigkeit mehr haben, in der neue Gesetzmäßigkeiten herrschen, die noch unbekannt sind. Vielleicht ist das Meer gar nicht wahnsinnig, aber es erscheint so, weil es wild und unberechenbar ist, weil in ihm Ereignisse warten, die man nicht geplant und sich schon gar nicht gewünscht hat.
Warum der Mensch des Titels den sicheren Hafen verlassen hat, ist nicht klar. Aber die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er es nicht freiwillig getan hat. Es ist eher selten, dass Leute aus eigenen Stücken die Sicherheit aufgeben und sich einer ungewissen Zukunft aussetzen. Man braucht dafür starke Beweggründe. Oder persönliche Katastrophen, die einem keine Wahl lassen.
Beim Nachdenken über meine Bilder und den Titel ist mir eingefallen, dass ich das Seefahrerbild von Tolkien übernommen habe. In seinen Geschichten, die mich schon seit langer Zeit begleiten und prägen, kommt es manchmal vor. Der Seefahrer Earendil zum Beispiel verlässt die bekannten Ufer von Mittelerde und bricht auf nach Westen in der Hoffnung, die Länder der Götter, der Valar, zu erreichen, um um Gnade zu bitten für Menschen und Elben (Earendil ist Sohn eines Menschen und einer Elbin). Ob er sein Ziel erreichen wird, ist äußerst unwahrscheinlich, denn die Götter haben den Weg versperrt. Earendil muss sich durch Dunkelheit und Wahnsinn kämpfen, aber schließlich erreicht er das andere Ufer, weil ihn seine Verzweiflung immer weitertreibt und weil er einen heiligen Stein an sich trägt, in dem das Licht der Götter wohnt.
Es kann sich nämlich lohnen, sich auf das Meer des Wahnsinns hinaustreiben zu lassen, selbst wenn es so scheint, als habe man den Hafen der guten Gesinnung verlassen. Das ist ein tröstlicher Gedanke, finde ich, weil wir alle früher oder später gar keine andere Wahl haben, als diese gefährliche Reise anzutreten. Und während man unterwegs ist, kann man die Oberfläche des Wassers betrachten und ein wenig zur Ruhe kommen.