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Evangelium | Eine Huchting-Geschichte

Was hast du denn da in der Hand? Sie sitzt auf einem dieser Sportgeräte, die die Stadt für Nachbarschaften aufstellt, Spielgeräte für Erwachsene, damit man sich zwischendurch mal bewegt und nicht einrostet. Sie tritt Pedale wie bei einem Fahrrad, sitzt dabei aber aufrecht und sieht ihn mit einem breiten Lächeln an. Irgendwie frontal, denkt er, sehr direkt, voll auf die zwölf. Ähm, das ist von meinem Staubsauger. Also, der hat keinen Beutel mehr. Man leert den Staub direkt in die Mülltonne. Ich geh gerade zur Mülltonne, fügt er hinzu, irgendwie redundant. Ah ja, sagt sie, immer noch sehr direkt lächelnd, und interessiert sich schon nicht mehr für seinen Staubsauger, hat möglicherweise bereits vergessen, dass sie überhaupt nach dem Ding in seiner Hand gefragt hat. Stattdessen wandern ihre Augen immer wieder zu seinem Unterarm, zu seinem Tattoo, das darauf zu sehen ist. Letzte Woche habe ich dich gar nicht gesehen. Bist du gar nicht zu Hause gewesen? Dort hinten kommt Arno von der Arbeit, in der rechten Hand eine ALDI-Tüte, in der vermutlich sein Abendessen ist, und verschwindet im Hauseingang, ohne zu ihnen herüberzuschauen. Doch, doch, ich war da. Ich hatte einfach viel zu tun. Was hast du da eigentlich für ein Tattoo? Er streckt seinen Arm aus und zeigt es ihr. Ein Kranich. Ah ja, sagt sie, breit lächelnd. Hat der eine bestimmte Bedeutung? Ich hatte eine schöne Begegnung mit Kranichen. Es ging mir nicht gut. Und dann habe ich sie im Dunkeln über mir rufen gehört. Das hat gutgetan, eine wichtige Erfahrung, das war irgendwie … Reden Gottes, sagt sie. Ja, vielleicht so. Und weil ich in der Woche drauf zum Schreiben weggefahren bin, habe ich mir vorgenommen, mich bei der Gelegenheit tätowieren zu lassen. Ah, du schreibst! Bist du ein Autor? Ja. Was hast du denn geschrieben? Gedichte. Ihr Lächeln wird etwas schmaler. Interessant. Und was schreibst du noch so? Geschichten. Das Lächeln wird wieder breiter. Und haben die … Sie sucht nach einem Wort, das er versteht. Haben deine Geschichten ein … Evangelium? Er versteht vollkommen, was sie meint. Nein. Aha? Oder irgendeine Bedeutung oder … Ein passenderes Wort will ihr nicht einfallen. Nein, sagt er. Es ist einfach Literatur. Unterhaltung, fügt er hinzu, um sicherzugehen, dass sie versteht. Sie tritt weiter in die Pedale. Wenn es so etwas wie eine Bedeutung gibt, sagt er. Ja? Ihr Augenbrauen wandern nach oben, das Lächeln wird breiter. Dann, dass die Geschichten von ganz normalen Leuten handeln in ganz normalen Situationen. Ah ja. Schnappschüsse, sagt er, direkt aus dem Alltag. M-hm. Sie deutet auf sein Tattoo. Es ist immer schön, wenn man etwas hat, worüber man ins Gespräch kommen kann. Wenn man sagen kann, was einem wichtig ist. Ja, sagt er. Kennst du The Gospel Without Words? Die vier Farben? Ich glaube, ich habe das mal … Da kannst du so wunderbar den Heilsweg erklären. Ich hatte früher immer eine Perlenkette mit den vier Farben. Und dann habe ich zum Beispiel im Zug immer so damit gespielt. Und dann haben die Leute gefragt, Was haben sie denn da für eine Kette? Und dann konnte ich ganz einfach Zeugnis ablegen. Sie lächelt breit. Ah ja, schön. In Afrika klappt das ganz toll, da sage ich immer, Such dir eine Farbe aus, was ist deine Lieblingsfarbe? Gold? Ja, das ist unser himmlisches Zuhause. Und dann kommt man ganz leicht ins Gespräch. Sie tritt in die Pedale und lächelt. Ein Regentropfen trifft ihn auf der Stirn. Er schaut nach oben. Vielleicht kommt von dort Hilfe. Ich glaube, ich sollte mal meinen Dreck wegbringen. Auch sie blickt nach oben. Gehen wir mal rein, hm? Es war schön, mit dir zu sprechen. Ja, sagt er.

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