Charly weiß nicht, wie oft er schon das Foto auf seinem Handy betrachtet hat, das Gruppenbild auf dem Jazzfestival. Sie nimmt eine Pose ein, die etwas affektiert wirkt, aber lustig sein soll: den Ellenbogen auf die Schulter ihrer Nachbarin gestützt, den Handrücken unter das Kinn geschoben, die Augenbrauen hochgezogen zu einem Lächeln, das halb belustigt, halb kokett aussieht. Er hat das Foto gemacht, zur Erinnerung an neugewonnene Freunde, die sich erst bei dieser Gelegenheit kennengelernt haben. Hat sie damals mit ihm geflirtet? Hätte sie diesen Ausdruck bei jedem gewählt, der ein Foto von ihr macht? Ist sie unsicher und möchte gerne gefallen? Oder ist sie selbstsicher und weiß genau, was sie mit solch einem Blick auslöst?
Er fuhr damals ein wenig wehmütig zurück nach Huchting, mit dem Gefühl, sich möglicherweise verliebt zu haben. Später besuchte er sie in Mannheim. Sie waren durch die nächtlichen Straßen gewandert, hatten sich geneckt, gelacht, sich gegenseitig ausgehorcht. Er berichtete ihr ungefragt die hässlichen Ereignisse seiner jüngeren Vergangenheit, bekam zwischendurch ein schlechtes Gewissen, dass er ihr das alles zumutete, konnte aber nicht anders, als weiterzureden. Sie nahm ihn mit in ihre Wohnung. Später kletterten sie auf das Hausdach mit Schokolade, Wein und Zigarillos und betrachteten den Mond, die windzerrissenen, silbern schimmernden Wolken und die Hausdächer der schlafenden Stadt. Spätestens da war er rettungslos verloren.
Sie schliefen in getrennten Zimmern. Saßen am nächsten Morgen in Unterwäsche dicht nebeneinander auf dem Fußboden der Küche, unterhielten sich, berührten sich nur flüchtig. Einmal konnte er unter dem weit fallenden T-Shirt ihre Brüste sehen und musste sich zusammenreißen, um sich seine Erregung nicht anmerken zu lassen. Sie wirkte enttäuscht, als sie ihr Gespräch beenden mussten, weil eine Freundin zum Frühstück kam. Doch später, beim Abschied am Bahnsteig, war sie kühl, wie abwesend, hatte sich wohl innerlich schon damit abgefunden, dass er gleich fort sein würde, und schien die Abfahrt des Zuges kaum erwarten zu können.
Er erinnert sich noch gut an die Fahrt nach Hause, an die Mischung aus Verzweiflung und Glück, die Unruhe, die ihn erfasst hatte, und die gleichzeitige Dankbarkeit, etwas so Schönes erleben zu dürfen. Das ist jetzt ein halbes Jahr her.
Sie haben seitdem viele Stunden telefoniert. Nach fast jedem Gespräch, das mühelos zwei Stunden dauern kann, ist er sich sicher, dass er sie und dass auch sie ihn liebt. Dann vergehen Wochen, in denen nichts passiert, in denen sie seine Nachrichten unbeantwortet lässt, ihn zu meiden scheint und die Unsicherheit wieder wächst. Dann ein Anruf, unvermittelt, wie aus dem Nichts, ein langes Gespräch, tief, ernst, ehrlich. Danach wieder Funkstille, Unsicherheit, Verzweiflung.
Er geht mit dem Gedanken an sie ins Bett und wacht mit der Frage auf, ob sie ihm geschrieben hat. Wenn er den Flugmodus des Handys ausschaltet und die Nachrichten eintrudeln, versucht er, nicht auf den Screen zu starren. Er zieht sich währenddessen an, kocht Kaffee, spiegelt sich selbst vor, es sei ihm egal. Das Herzklopfen, das einsetzt, wenn eine Nachricht von ihr dabei ist, verrät, dass er sich selbst belügt.
Irgendwann teilt sie ihm mit, sie brauche ein wenig Abstand, es falle ihr schwer, das zu schreiben, aber ihr werde alles ein wenig zu nah, und sie könne mit so viel Nähe schlecht umgehen. Er heuchelt Verständnis, darum bemüht, seine Verzweiflung vor ihr und sich selbst zu verbergen. Sie verabreden, eine Zeit lang nicht mehr zu schreiben, nicht mehr zu sprechen, und halten es ein paar Wochen durch. Dann irgendwann eine kurze Nachricht. Wie geht es dir? Was machst du gerade? Wer es gewesen ist, weiß er nicht mehr.
Charly besucht sie ein zweites Mal. Es ist nicht ganz so schön, wie das erste. Sie reden und lachen, sitzen bis tief in die Nacht auf ihrem Balkon. Sie ist distanzierter, lässt seine wie zufälligen Berührungen unerwidert. Das merkt er nicht, weil er wie betrunken ist, wie unter dem Einfluss einer Droge, deren Wirkung erst nachlässt, als er wieder in seine Wohnung zurückkehrt. Dann setzt der Kater ein, eine tiefe Traurigkeit, weil ihm klar wird, dass es kein Ende gibt, kein Ziel, sondern nur einen andauernden schwebenden Zustand.
Diesmal ist er es, der den Abstand will, und es ist sie, die darüber unglücklich zu sein scheint. Ob sie noch ein letztes Mal telefonieren wollen, bevor sie eine Pause einlegen? Nein, lieber nicht.
In den darauffolgenden Wochen vermisst er sie nicht ein einziges Mal. In ihm ist ein Nebel aufgestiegen, der die Konturen der Dinge matter erscheinen lässt, der das Licht filtert und die Geräusche dämpft. Er arbeitet, freut sich über kleine Erfolge, wird krank, dann wieder gesund. Er nimmt ab, trainiert, wird muskulöser, meditiert. Kein Tag beginnt mit der Frage, ob sie geschrieben hat. Es ist ihm diesmal wirklich egal.
Die Welt, seine Welt, ist ruhiger geworden. Und sehr viel langweiliger.