Jeden Morgen wacht der Mann um sechs auf. Er bleibt ein paar Minuten liegen. Dann geht er ins Bad, aufs Klo, wiegt sich, betrachtet sich im Spiegel, geht zurück in sein Zimmer, zieht sich an, weiter in die Küche, um Kaffee zu kochen. Um viertel nach sechs klopft er an die Zimmertür seines Sohnes, der bald zur Arbeit muss.
Der Mann setzt sich an den Küchentisch, trinkt Kaffee, checkt Google News, klärt wichtige Fragen (Braucht man heute eine Jacke? Hast Du Telefon und Schlüssel? Soll ich was für Dich kochen? Bis heute Nachmittag!). Wenn der Sohn geht, die Tür ins Schloss fällt, ist er allein. Er denkt über den Tag nach, die nächsten Minuten. Die Vögel wird er erst um halb acht wecken. Na ja, ‚wecken‘. Sie sind die ganze Zeit halbwach, halbschlafend. Ihre eine Gehirnhälfte ruht sich aus, während die andere fortwährend nach Gefahr Ausschau hält. Na ja, ‚Gefahr‘. Welche Gefahr kann ihnen in Wohnzimmer schon begegnen? Im Moment sitzen sie aufgeplustert im Bücherregal, dort, wo früher Dostojewski stand, zwischen von ihnen zerfetzen Buchrücken und -seiten und schlummern.
Was die nächsten Minuten angeht: Er könnte Instagram scrollen, Tipps für ein erfolgreiches Dasein als Künstler oder wie er endlich so abnimmt, dass man seine Bauchmuskeln sehen kann. Er könnte weiter Nachrichten lesen. Manchmal meditiert er auch, betet, liest Abschnitte aus der Bibel. Es kommt vor, dass er Tagebuch schreibt, sein Beziehungschaos protokolliert, ob die Ex-Frau bleibt oder auszieht, in wen er gerade verliebt ist, warum eine Beziehung eine absolute Unmöglichkeit darstellt. Er könnte über sein neues bildnerisches Projekt nachdenken, darüber, warum er schon wieder den Stil gewechselt hat, warum er es allen so schwer macht, seine Sachen zu mögen, weil er ihnen nicht die Zeit einräumt, sie kennen und schätzen zu lernen. Er könnte mal erfolgreich, dann wieder erfolglos die Gedanken an seinen unfertigen Roman vertreiben und sich sagen, dass ihm zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Energie und Nervenstärke fehlt, um sich ihm zu widmen.
Oder er könnte etwas anderes schreiben, etwas Neues. Diese Minuten in der halbdunklen, noch feuchten, nach Nachtatem und Kaffee riechenden Wohnung, diese Minuten scheinbar toter, in Wirklichkeit aber schlummernder Zeit, in der sich der Tag darauf vorbereitet, zuzuschlagen, in denen er sich ein letztes Mal überlegt, ob er gnädig oder grausam oder tödlich langweilig sein wird, diese Minuten, sagt der Mann sich, sind der kostbarste Zeitabschnitt der kommenden Stunden. Sie enthalten alles und nichts. Sie besitzen das Potential für neue Erkenntnisse, neue Projekte, Begegnungen mit Gott und ihren Engeln, für Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Todessehnsucht und farblose Ennui, für die geballte Banalität eines Wochentages mit Nachdenken über Steuern, Einkauf, verschimmelnden Lebensmitteln im Kühlschrank und der Notwendigkeit, mal wieder das Bad zu putzen.
Schreiben. Warum nicht schreiben? Warum nicht das tun, was er ursprünglich gelernt hat, bevor er ziellos und vor der Langeweile fliehend immer weitere und noch weitere Dinge gelernt hat, um dieses und dann noch jenes auszuprobieren? Schreiben, an einem Projekt, das ihm nicht schon seit Jahren wie ein Lehrer mit schlechtem Atem über die Schulter schaut und ihn fragt, wann er endlich fertig ist. Einfach schreiben, vertrauend auf seine Fähigkeiten und die Tatsache, dass das Leben ihn ausreichend reif und mürbe geklopft hat, sodass, wenn er auch nur anfinge, schon irgendetwas Interessantes dabei entstehen würde. Interessant für wen? Er würde es herausfinden.
Der Mann leert seinen Becher. Der Kaffee ist ausgetrunken. Er steht auf und geht die Vögel wecken.