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Timmy schaukelt

Unser Universitätsstädtchen hat einen Spielplatz, der direkt am Fluss liegt – nicht so unmittelbar, dass Kinder hineinplumpsen könnten, aber immerhin so nahe, dass man bequem zu ihm hinüberspazieren kann, selbst wenn man sehr kurze Beine hat.

Dieser Spielplatz wimmelt fast immer vor Menschen. Er ist voller engagierter Eltern, die ihre Sprösslinge rund um die Uhr fördern und fordern und sie wahrscheinlich nachts wecken, um sie im zarten Alter von drei Jahren zwischen den einzelnen Schlafphasen flugs ein paar Englischvokabeln abzufragen. Und er ist natürlich voller Kinder, kleine, nimmermüde, blond- und braungelockte Racker, die die Klettergerüste hinaufkraxeln, die Rutschen hinunterpurzeln, Sandburgen und -kuchen bauen und Käfer und Ameisen in einer Suppe aus Speichel und Matsch kochen. Kurz, es ist ein Ort des Schreckens.

So jedenfalls sah es Timmy. Meine Frau fand ihn hochspannend, weil sie mit Vorliebe die anderen Eltern beobachtete, während Jimmy an einem kleinen Bach am Rand des Spielplatzes Gefallen gefunden hatte, in dem er, wenn es warm war, auf allen vieren herumkriechen konnte, auch wenn er dabei aufpassen musste, dass er sich nicht an den zerbrochenen Flaschen schnitt.

Ich persönlich fand den Spielplatz nur in kurzen, eingestreuten Augenblicken interessant, nämlich immer dann, wenn sich eine junge Mutter über ein Kind beugte und ich in ihren Ausschnitt blicken konnte oder wenn sie sich auf den Rand des Sandkastens hockte, so dass ihre tiefsitzende Jeans ihren Po entblößte. Ansonsten langweilte ich mich tödlich.

Das lag sicher auch daran, dass wir auf einem Spielplatz nicht lesen konnten, so wie andere Eltern es taten, jedenfalls die, die ihren Kindern gerade keine Fremdsprachen beibrachten oder mit ihnen komplizierte mathematische Probleme lösten. Es gab nur einen Ort auf dem gesamten Spielplatz, an dem Timmy sich wohl und sicher fühlte, und das war die Schaukel.

Leider konnte er nicht alleine schaukeln. Wir mussten ihn anstoßen. Und weil Timmy andauernde, repetitive Bewegungen liebte, deren Reiz nicht etwa durch die Eintönigkeit geschmälert wurde, sondern deren Eintönigkeit ihren Reiz geradezu ausmachte, schaukelte er gerne lange.

Sehr lange.

Es war nichts Ungewöhnliches, wenn er fünfundvierzig bis fünfzig Minuten am Stück auf dem Schaukelbrett saß, hin und her schwang, die Welt dabei betrachtete und seinen Gedanken nachhing.
Selbstverständlich bedeutete das für uns, dass wir für dieselbe Dauer unseren Posten hinter oder vor ihm bezogen und ihn anschaukelten, während wir Eltern beobachteten, Müttern in die Ausschnitte starrten, uns irgendwie doch ein Buch vor die Nase hielten oder uns langweilten.

Derjenige, der nicht Timmy anschaukelte, passte derweil auf Jimmy auf, den wir bei diesen Gelegenheiten Gollum nannten, weil er der Figur aus ‚Der Herr der Ringe‘ zum Verwechseln ähnlich sah: Nur mit einer Windel bekleidet, krabbelte er über Felsen und durchs Wasser, während ihm sein schlaffes Stofftier, das auf den Namen ‚Klöterkuh‘ hörte, wie ein toter Fisch vom Mund herabhing. So vergingen die Nachmittage.

Es gibt Menschen, die behaupten, dass Spielplätze magische Orte seien, weil hier die Kindheit zum Leben erwache und weil jedes Klettergerüst und jede Rutsche zu einem sinkenden Piratenschiff oder einem gefährlichen Dinosaurier werden könne. Das ist natürlich Quatsch. Kinder brauchen keine Spielplätze, um die Welt magisch zu finden, das schaffen sie von ganz alleine. Im Gegenteil, eigentlich gibt es kaum etwas Prosaischeres als einen Kinderspielplatz, weil sie sich nämlich fast alle gleichen. Wir wissen das. Wir haben davon jede Menge gesehen.

Das lag daran, dass es eigentlich kaum eine andere Möglichkeit gab, Timmy vor die Haustür zu locken, als mit ihm Waschmaschinen im Waschsalon anzuschauen oder schaukeln zu gehen. In den Wald gehen war doof, Spazierengehen war doof, Versteckspielen, Fußballspielen, eine Schatzsuche machen – alles doof. Eisessen war gut und irgendwas mit Schokolade. Und eben Schaukeln.

Deshalb planten wir nicht nur unsere Ausflüge als Spielplatzbesuche, die sich über die ganze Stadt erstreckten. Nein, wir weiteten das Prinzip sogar auf unsere Urlaubsplanung aus: „Ich hätte mal wieder Lust auf die Nordsee“, konnte zum Beispiel ich an einem Samstagmorgen beim Frühstück sagen, worauf meine Frau antworten würde: „Okay, gibts da irgendwo einen Spielplatz?“

Ich werde nie vergessen, wie wir das erste Mal die einzige deutsche Hochseeinsel Helgoland besuchten. Es war einer dieser wahnwitzigen Tagesausflüge, für die man eine dreistündige Hin- und dreistündige Rückfahrt mit dem Dampfer bucht, nur um sich dann in einem Strom von Touristen für ein bis zwei Stunden über die Insel zu schieben. Als wir bei der Landung das Hafengebiet verließen und der Promenade am Wasser folgten, zeigte meine Frau strahlend mit dem Finger geradeaus. Sie hatte einen Spielplatz entdeckt. Es war damit noch nicht klar, ob der Inselausflug ein schönes Erlebnis werden würde. Aber die Chancen waren beträchtlich gestiegen.

Den Sommerurlaub, den wir zu viert in einem Campingmobil wagten, bezeichneten wir im Nachhinein als ‚Spielplatztour Deutschland‘, obwohl der nicht ganz zutreffend war, denn immerhin hatten wir sogar Spielplätze in den österreichischen und schweizerischen Gebieten nahe der deutschen Grenze besucht.

Den Spielplatz am Petersberg im thüringischen Nordhausen können wir nicht empfehlen. Er hat verschiedene, fantastische Klettervorrichtungen und ähnelt einem Fort oder einem Indianerdorf, weist aber leider keine Schaukel auf. Wirklich wunderbar dagegen ist der Spielplatz auf dem Gäbris in den Schweizer Voralpen. Eigentlich kann er nur mit einer Doppelschaukel und einem alten Trampolin aufwarten, das ganz hübsch ist, wenn man nicht zu schwer ist oder nichts dagegen hat, sich ein paar Wirbel zu brechen. Aber die Schaukel ist toll! Nachdem man sich an das Quietschen gewöhnt hat, genießt man die herrliche Aussicht auf die Alpen und stellt sich vor, man würde wie Heidi in den Himmel schaukeln. Das heißt natürlich, wenn man selbst auf dem Brett sitzt. Wenn man nur davorsteht und anschubst, ist es ein bisschen langweiliger.

Auch das Schweizer Winterschaukeln haben wir schon erlebt.  In Heiden in Appenzell gibt es einen wunderbaren Spielplatz mit einem Klettergerüst, das tatsächlich wie ein gesunkenes Piratenschiff aussieht, damit die Kinder es sich nicht mehr selber vorstellen müssen. Er hat eine Wasserpumpe, die einen künstlichen Bach speist, eine Art Karussell zum Selberanschieben, eine große Rutsche und eine wirklich große Schaukel. Er ist also nicht nur etwas für Schaukoholics, sondern auch für kleine Gollums, die in Ritzen und Löcher krabbeln möchten.

An einem sonnigen Wintertag, an dem ein halber Meter Neuschnee gefallen war, der danach schrie, dass man die Kinder warm einpackt und mit ihnen eine herrliche Schlittenwanderung macht, überredeten wir die muffeligen Autisten dazu, das Haus zu verlassen und mit uns wenigstens auf den Spielplatz zu gehen. Dort angekommen, traten wir den Schnee platt, der bis hoch zum Schaukelbrett reichte, setzten Timmy darauf  und bewegten uns für die nächste Stunde nicht mehr von der Stelle, während um uns herum Väter und Mütter ihre lachenden Kinder auf quietschbunten Plastikschlitten durch die Gegend zogen.

Der Spielplatz aber, der für uns eine zentrale Rolle spielen sollte und an den wir uns immer mit warmen Gefühlen erinnern werden, liegt ganz in unserer Nähe.

Wir entdeckten ihn, als der Einzug in unser neues Haus kurz bevorstand. Um dem Trubel der Innenstadt zu entgehen, in der tagsüber die Touristen und nachts die Studenten lärmen, hatten wir es gekauft und schickten uns an, in einen der langweiligsten Teile unseres Universitätsstädtchens zu ziehen, ein Viertel, in dem die Einfamilienhäuser, deren Besitzer sich ab Anfang vierzig auf den Lebensabend vorbereiten, dicht an dicht stehen und wo sich ein gepflegter Vorgarten an den anderen reiht.

Wir schlichen durch die Straßen und versuchten uns mit dem Gedanken anzufreunden, dass sich hier die nächsten Jahre unseres Lebens abspielen sollten. Schließlich entdeckten wir einen kleinen Platz, der sich beim Näherkommen als Spielplatz entpuppte. Aus weiterer Entfernung war das nicht zu erkennen gewesen: Es war ein umzäuntes Areal, auf dem sich ein hölzerner Unterstand, ein Sandkasten und eine Schaukel befanden. Die Schaukel stand in einer Art Kiesbett aus orangenem grobem Dreck. Das war alles. Der Tag war heiß, die Sonne brannte herab, und es fehlten eigentlich nur noch die Tumbleweeds, die der Wind, wie in einem Western, durchs Bild blies.

Aber es war ein Spielplatz. Also betraten wir ihn, und während meine Frau und ich uns auf eine Bank setzten, erkundeten die beiden Jungs das Gelände. Es dauerte nicht lange, bis ich wieder von der Bank aufstehen musste, denn Timmy wollte schaukeln.

„Mein Gott“, dachte ich, als ich ihm wieder und wieder Schwung gab. „Willst du das wirklich? Willst du hier wirklich leben?“ Zumindest hatte der Platz einen guten Ausblick. Er lag auf einem Hügel, so dass man von der Schaukel aus über das Tal und hinüber zum Schloss blicken konnte. Das aber war auch schon der einzige Vorteil, den ich erkennen konnte.

Natürlich täuschte ich mich. Manche Vorzüge lassen sich eben nicht auf den ersten Blick erkennen. Denn es stellte sich heraus, dass dieser Spielplatz ganz unbestreitbar einer der besten war von allen, die wir bisher besucht haben. Das fing schon damit an, dass er niemals von irgendjemandem außer uns genutzt wurde. Wann auch immer wir auftauchten, wir hatten unsere Ruhe. Natürlich konnte man so weder Eltern beobachten, noch ihnen in den Ausschnitt starren. Aber dafür wurden wir auch selbst nicht angestarrt oder mit beunruhigten Blicken verfolgt. Auch die Reizarmut war ein großer Vorteil. Dieser Spielplatz wollte uns keine untergehenden Piratenschiffe, von Kanonenkugeln beschossene Häuserfassaden oder Indianer-Tipis zeigen. Wir konnten einfach unseren Gedanken nachhängen. Timmy schaukelte, Jimmy baute Vulkane aus Sand und ließ sie stundenlang ausbrechen, und wir lasen oder dachten nach. Auf diesem Platz sind aus purer Langeweile Gedichte entstanden, die gar nicht mal schlecht sind. Er passte einfach zu uns. Von  außen betrachtet wirkte er öde. Aber wenn man sich auf ihn einließ, offenbarte er ungeahnte Reize.

Damals jedenfalls war das so. Heute gehen wir nicht mehr hin. Man hat ihn aufgehübscht: Es gibt eine neue Rutsche für Kleinkinder, Kletterpilze, und der orangefarbene Dreck wurde durch feinen weißen Sand ersetzt. Wann immer man daran vorbeikommt, hört man das Lachen spielender Kinder.
Das ist nichts für uns. Wir suchen uns einen neuen.

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