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Thomas Merton: Ein Wort an Dichterinnen und Dichter

In dem Band ‚Raids on the Unspeakable‘ (New Directions, New York 1966) hat der 1968 verstorbene Trappist und bekannte Mystiker und Dichter Thomas Merton eine Sammlung von verschiedenen Essays veröffentlicht, die sehr lesenswert, oft aber auch dunkel und poetisch sind, weshalb es sich anbietet, sie immer und immer wieder lesen.

Darunter ist auch ein Text, den er 1964 geschrieben hat. Es ist eine Botschaft an junge Dichterinnen und Dichter, die vor allem aus Lateinamerika stammten und sich in Mexico City trafen.

‚A Message to Poets‘ richtet sich an DichterInnen, aber auch an andere KünstlerInnen und schließlich an jeden, der sich dem Leben verpflichtet fühlt und die Notwendigkeit erkennt, gegen unterdrückerische und ausbeuterische Ideologien aufzustehen. Es ist ein Text, der aus einer tiefen Gläubigkeit schöpft und darin Motivation findet, sich den Dingen der Welt entschlossen zuzuwenden.

Ich habe den Text ins Deutsche übersetzt/übertragen, weil ich keine deutsche Version davon finden konnte und weil ich ihn für wichtig halte. Eine der nächsten Goficast-Folgen wird sich mit ihm auseinandersetzen.

Anmerkung: Diese Botschaft wurde bei einem Treffen der ’neuen‘ lateinamerikanischen Dichterinnen und Dichter vorgelesen, das im Februar 1964 in Mexico City stattfand und an dem auch einige aus Nordamerika teilnahmen. Es handelte sich hierbei nicht um einen sorgfältig geplanten und großzügig finanzierten internationalen Kongress, sondern um ein spontanes, aus der Begeisterung geborenes Treffen junger Dichterinnen und Dichter des globalen Südens, von denen sich die meisten die Teilnahme kaum leisten konnten. Eine peruanische Dichterin zum Beispiel hatte ihr Klavier verkauft, um die Reise zu finanzieren.

Wir, die wir dichten, wissen, dass der Grund für ein Gedicht erst dann entdeckt werden kann, wenn das Gedicht fertig ist. Der Grund für eine vom Leben inspirierte Tat erweist sich in der Tat selbst. Dieses Treffen ist eine spontane Explosion der Hoffnungen. Deshalb ist es ein Wagnis, das wir in prophetischer Armut eingehen, wird es doch von keiner Institution gefördert oder finanziert, von keinem Veranstalter geplant oder öffentlich bekannt gemacht, sondern es ist ein lebendiger Ausdruck des Glaubens daran, dass es nun neue Menschen, neue Dichterinnen und Dichter auf der Welt gibt, die keinem etablierten politischen System oder einer kulturellen Einrichtung verpflichtet sind – sei sie nun kommunistisch oder kapitalistisch – und die es wagen, ihrer eigenen Vision von Wirklichkeit und Zukunft zu folgen. Diese Versammlung ist vereint durch eine Flamme der Hoffnung, deren Hitze noch nicht gemessen, deren Wirkung noch von niemandem erfasst worden ist, weil dieses Feuer ganz und gar neu ist. Sein Grund kann von niemandem erkannt werden, der sich nicht an ihm wärmt. Der Grund, warum wir hier sind, wird erst dann sichtbar werden, wenn wir uns alle gemeinsam auf den Weg gemacht haben, ohne zu zögern, hinein in alle Widersprüche und Möglichkeiten.

Wir glauben, dass unsere Zukunft aus Glaube und Liebe gemacht wird, und nicht durch Gewalt oder Berechnung entsteht. Der Geist des Lebens hat uns hier zusammengeführt, an diesen Ort oder zumindest in gemeinsamer Übereinkunft, und er wird unsere Begegnung zu einer Offenbarung lauter Gewissheiten werden lassen, die wir jeder für uns alleine niemals erfahren könnten.

Der Zusammenhalt der Dichterinnen und Dichter wird nicht durch taktische Manöver oder politische Winkelzüge herbeigeführt, denn dafür wären Vorurteile, List und strategisches Handeln notwendig. Und bei allem, was man einem Dichter vielleicht vorwerfen mag, man kann ihm nicht nachsagen, dass er durchtrieben wäre. Seine Kunst beruht auf einer tiefverwurzelten Unschuld, die er verlieren würde, wenn er sich dem Geschäftlichen, der Politik oder einem streng reglementierten akademischen Leben widmete. Die Hoffnung, die sich auf kalte Berechnung verlässt, hat ihre Unschuld verloren. Wir dagegen rotten uns hier zusammen, um die unsrige zu verteidigen.

Jegliche Unschuld ist eine Sache des Glaubens. Ich spreche jetzt nicht von einer gemeinsam vereinbarten Übereinkunft, sondern ich rede von inneren Überzeugungen ‚aus ein und demselben Geist‘. Diese Überzeugungen sind so stark und unwiderstehlich wie das Leben selbst. Sie wurzeln in der Treue zum Leben, nicht zu künstlichen Systemen. Der Zusammenhalt der Dichterinnen und Dichter untereinander ist eine so elementare Tatsache wie das Sonnenlicht, der Wechsel der Jahreszeiten oder der Regen. So etwas kann man nicht planen, es kann nur geschehen. Es kann nur ‚empfangen‘ werden. Es ist ein Geschenk, für das wir offen sein und bleiben müssen. Niemand kann durch Konzepte den Sonnenaufgang herbeiführen oder Regen dazu veranlassen, dass er fällt. Das Wasser der Meere bleibt nass, trotz aller Programme und formaler Anstrengungen. Zusammenhalt ist nicht gleich Kollektivität. Die Planer eines kollektiven Lebens werden sich über die Ernsthaftigkeit, ja über die Tatsache unserer Hoffnung lustig machen. Sollte es ihnen gelingen, dass sie uns mit ihrem Zweifel anstecken, werden wir unsere Unschuld verlieren und mit ihr unseren festen Zusammenhalt.

Kollektives Leben wird häufig auf der Grundlage von List, Zweifel und Schuld erreicht. Echter Zusammenhalt wird zerstört durch die politische Kunst des Gegeneinanderausspielens und durch die kommerzielle Kunst, den ökonomischen Wert eines Menschen zu bestimmen. Diese illusorischen Maßstäbe hat der Mensch zur Grundlage genommen, um darauf eine Welt willkürlicher Werte zu errichten, ohne Leben oder Bedeutung, aber voller fruchtloser Betriebsamkeit. Wer einen Menschen gegen einen anderen ausspielt, ein Leben gegen das andere, das Werk eines Menschen gegen das eines anderen und dann meint, dessen Wert hinsichtlich seiner Kosten oder seiner wirtschaftlichen Bedeutung oder seines moralischen Verdienstes bestimmen zu können, der steckt alle anderen mit dem tiefsten metaphysischen Zweifel an. Getrennt voneinander und aufgehetzt gegeneinander im Wettkampf um den größten Wert, lassen sich die Menschen ohne weiteres zu Objekten machen, die auf dem Sklavenmarkt verhökert werden. Sie verzweifeln an sich selbst, weil sie erkennen, dass sie dem Leben und dem Dasein selbst untreu geworden sind, und sie finden niemanden mehr, der ihnen ihre Treulosigkeit vergeben würde.

Doch ihre Verzweiflung verdammt sie nur zu weiterer Untreue: Ihrer geistlichen Herkunft entfremdet, machen sie sich daran, den Geist ihrer Mitmenschen zu brechen, zu demütigen und zu zerstören. In diesem Zustand findet sich keinerlei Freude, nur Wut. Jeder Mensch spürt, dass sein grundlegendstes Wesen durch Misstrauen, Unglaube und Hass vergiftet wird. Jeder erlebt sein Dasein als eine Abfolge von Schuld und Verrat, und selbst der Tod bietet keinen Ausweg.

Wir verbünden uns und prangern dieses abgekartete Spiel als das an, was es ist: als schändlich, als Hochstapelei.

Wenn wir gegen diese Verirrungen vereint bleiben wollen, gegen die Mächte, die die Menschheit vergiften und sie zu Untertanen einer Welt machen, in der Bürokratie, Kommerz und Polizeistaat unantastbar erscheinen, dann dürfen wir uns nicht kaufen lassen. Wir müssen uns ihrer akademischen Beurteilungen verweigern. Wir müssen der Verführung durch öffentliche Aufmerksamkeit widerstehen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass man uns in mystischen Vergleichen gegeneinander ins Feld führt, ob das nun durch die politischen, literarischen oder kulturellen Hüter der ‚reinen Lehre‘ geschieht. Wir dürfen uns nicht dazu verleiten lassen, dass wir uns zum Vergnügen ihrer Medien gegenseitig verschlingen und verstümmeln. Wir dürfen uns nicht von ihnen auffressen lassen, damit sie an uns ihre unersättlichen Zweifel stillen. Wir dürfen nicht einfach nur für etwas und gegen etwas anderes sein, selbst wenn wir für „uns“ und gegen „sie“ sind. Wer sind „sie“ schon? Wir sollten sie nicht dadurch bestärken, dass wir ihre „Gegner“ werden, was ja nahelegen würde, dass sie tatsächlich existieren.

Wir sollten zu „ihren“ Wertmaßstäben auf Abstand gehen. In dieser Hinsicht sind wir alle Mönche: wir bleiben unschuldig und unsichtbar für Kulturindustrie und Funktionäre. Sie haben keine Ahnung von dem, was wir treiben, solange wir uns nicht an sie verraten, und selbst dann würden sie es niemals begreifen.

Verstehen können sie nur das, was sie selbst verordnet haben. Sie sind geschickt darin, in schönen Worten das Leben zu umschreiben, und dann dafür zu sorgen, dass das Leben sich dem anpasst, was sie selbst verkündet haben. Wie sollten sie irgendjemandem vertrauen können, wenn sie sogar das Leben zum Lügner machen? Es ist der Geschäftsmann, der Werbestratege, der Politiker, der ergeben an die „Magie der Sprache“ glaubt – nicht der Dichter.

Dichterinnen und Dichter leben in dem Bewusstsein, dass keinerlei Magie existiert. Nur das Leben gibt es mit all seiner Unvorhersehbarkeit und Freiheit. Was als ‚Magie‘ bezeichnet wird, ist ein rücksichtsloser Manipulationsversuch, ein Teufelskreis, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.

Sprachmagie ist eine Entweihung der Sprache und des Geistes, in der Worte, die absichtlich unverständlich sind, sinnlos auf den verletzlichen Willen einwirken. Lasst uns diese Magie verspotten und sie mit eigenen Unverständlichkeiten nachahmen, wenn wir Lust darauf haben. Noch besser aber ist es zu prophezeien statt zu spotten. Eine Prophetie auszusprechen bedeutet nicht, dass man etwas vorhersagen würde. Man packt vielmehr die Wirklichkeit in einem Moment, in dem sie sich mit äußerst gespannter Erwartung dem Neuen zuwendet. Diese Spannung erkennen wir nicht in hypnotischer Begeisterung, sondern im Licht des alltäglichen Lebens. Dichtung ist frei von jeglicher Vorhersage, weil sie selbst die Erfüllung all jener wirklich bedeutsamen Vorhersagen ist, die sich im Alltag verbergen.

Dichtung ist das Erblühen alltäglicher Umstände. Sie ist die Frucht ganz normaler und natürlicher Entscheidungen. Darin liegt ihre Unschuld und ihre Würde.

Lasst uns nicht wie diejenigen sein, die sich wünschen, der Baum würde zuerst seine Frucht tragen und erst anschließend seine Blüte – ein Taschenspielertrick und Werbeversprechen. Uns genügt es, wenn zuerst die Blüte erscheint und erst nach ihr die Frucht, jedes nach seiner Zeit. Solcher Art ist der Geist der Dichtung.

Lasst uns dem Leben gehorchen und dem Geist allen Lebens, der uns in das Dichterdasein hineinberufen hat, denn dann werden wir viele neue Früchte ernten, nach denen die Welt hungert – Früchte der Hoffnung, die man noch nie zuvor gesehen hat. Mit diesen Früchten werden wir die Bitterkeit und Wut des Menschen stillen.

Lasst uns stolz darauf sein, dass wir keine Schamanen sind, sondern ganz normale Menschen.

Lasst uns stolz darauf sein, dass wir keine Fachleute auf irgendwelchen Gebieten sind.

Lasst uns stolz sein auf die Worte, die uns geschenkt werden, nicht, um jemanden zu belehren, zu widerlegen oder zu beweisen, wie sehr irgendjemand danebenliegt, sondern um über alle Dinge hinauszuweisen in die Stille, in der überhaupt nichts gesagt werden kann.

Wir sind keine Überredungskünstler. Wir sind die Kinder des Unbekannten. Wir sind die Abgesandten der Stille, die nötig ist, um die Opfer des Unsinns zu heilen, die von zu viel aufgesetzter ‚Freude‘ sterbenskrank geworden sind. Lasst uns also zur Kenntnis nehmen, wer wir in Wirklichkeit sind: Derwische, besessen von einer geheimen heilenden Liebe, die man weder kaufen noch verkaufen kann und die unter Politikern gefürchteter ist als jede gewaltsame Revolution, weil Gewalt überhaupt nichts ändert. Liebe aber verändert alles.

Wir sind stärker als die Atombombe.

Lasst uns also „ja“ sagen zu unserer edlen Abstammung, indem wir die Unsicherheit und die Verachtung umarmen, die zu einem Dasein als Derwisch dazugehören.

Schon in der Republik des Plato gab es für Dichter und Musiker keine Verwendung, für Derwische und Mönche schon gar nicht. Die hochtechnisierten Platos dagegen, die sich für die Beherrscher unserer heutigen Welt halten, wollen uns mit Banalitäten und hochtrabenden Idealen ködern. Aber wir können ihnen ganz leicht ausweichen, indem wir in den heraklitischen Fluss steigen, den man niemals zwei Mal durchqueren kann.

Wenn der Dichter seinen Fuß in den stetig fließenden Fluss setzt, dann wird aus dem gleißenden Wasser nichts anderes als Dichtung geboren. In diesem einzigartigen Augenblick wird die Wahrheit ersichtlich für alle, die in der Lage sind, sie zu empfangen.

Niemand kann sich dem Fluss nähern, sofern sie oder er nicht die eigenen Füße benutzt. Man kann nicht herbeigefahren oder -getragen werden.

Niemand kann in den Fluss steigen, solange sie oder er noch die Gewänder der bekannten und allgemein vertretenen Weltanschauung trägt. Man muss das Wasser auf der eigenen Haut spüren. Man muss wissen, dass das Unmittelbare nur dem entblößten Geist und den Unschuldigen zugänglich ist.

Kommt, Derwische: Hier ist das Wasser des Lebens. Tanzt darin.

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